Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion
Erklärung zum 80. Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion
Am 22. Juni 2021 jährt sich der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion zum 80. Mal. Das Datum markiert die Ausweitung des Vernichtungskrieges, den das nationalsozialistische Deutschland am 1. September 1939 gegen seinen Nachbarn Polen begonnen hatte, auf die Bevölkerung in den weiten Gebieten zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. Der 22. Juni 1941 bildet zugleich den Auftakt zum „Holocaust durch Kugeln“, d.h. Massenerschießungen, denen bis 1944 auf sowjetischem Gebiet etwa zwei Millionen jüdische Kinder, Frauen und Männer zum Opfer fielen. Mit dem Tag des Einmarsches begannen unfassbare Qualen für Millionen weiterer Zivilistinnen und Zivilisten. Weit über zehn Millionen starben an Hunger oder durch die planmäßige Vernichtung ganzer Landstriche bei sogenannten Vergeltungsaktionen und durch die Politik der »verbrannten Erde«. Drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene ließ die deutsche Führung gegen internationales Kriegsvölkerrecht in Lagern zugrunde gehen oder gezielt töten.
Die SPD-Bundestagsfraktion gedenkt heute dieser Opfer eines rassistischen Hegemonialkrieges, durch den die Völker Osteuropas unterjocht, ihres kulturellen Erbes beraubt und versklavt werden sollten, um deutschen »Lebensraum« im Osten zu schaffen. Die Nationalsozialisten verfolgten diese Politik stufenweise. Um ihrem Ziel zunächst für die Gebiete der benachbarten Polnischen Republik näherzukommen, hatten sie im August 1939 zunächst mit dem ideologischen Gegner Sowjetunion einen Freundschafts- und Nichtangriffspakt geschlossen. In einem geheimen Zusatzprotokoll war die Aufteilung in »Interessensphären« niedergelegt worden. Schon wenige Wochen später hatte Polen als Staat aufgehört zu existieren.
Ein knappes Jahr später, nach den raschen militärischen Siegen über Norwegen, Dänemark, die Nieder- lande, Belgien, Luxemburg und Frankreich, teilte Adolf Hitler dann seinen Entschluss mit, »Rußland zu erledigen«. Bis heute suggeriert seine Rede vor hohen Vertretern der Wehrmacht mit der immer wieder verwendeten Bezeichnung »Sowjetrussland«, der geplante Feldzug habe nur Russland gegolten. Die ab Juni 1941 eroberten sowjetischen Gebiete waren Heimat einer Vielzahl von Völkern, von unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen. Insbesondere die heutigen Staaten Belarus, die Ukraine und Russland litten unter der deutschen Besatzung. Es handelte sich von Anbeginn um einen weltanschauli- chen Krieg. Die Nationalsozialisten beabsichtigten, mit ihrem Angriff auf die Sowjetunion den angeblichen Hort des »jüdischen Bolschewismus« zu vernichten und dort ein deutsches Kolonialreich zu errichten. Um dieses Ziel schnell zu erreichen, zielten sie auf die Beseitigung der kommunistischen Funktionärs- schicht, unter der die Nationalsozialisten einen hohen Anteil von Juden vermuteten. Wehrmacht, SS- und Polizeiapparat verständigten sich über ihre Zuständigkeiten: So sollte die Wehrmacht gefangen genom- mene politische Offiziere der Roten Armee erschießen. Eigens aufgestellte »Einsatzgruppen« der SS erhielten den Auftrag, in Zusammenarbeit mit anderen SS- und Polizeiverbänden vor allem zivile kommunistische Funktionäre und jüdische Männer zu ermorden. Ohne zentralen schriftlichen Befehl der NS- Führung erschossen einzelne SS- und Polizeieinheiten ab Ende Juli 1941 erstmals unterschiedslos jüdi- sche Männer, Frauen und Kinder. Ganze jüdische Gemeinden wurden in der Folgezeit ausgelöscht. Diese Verbrechen markierten den Übergang zum Völkermord. Auch die sowjetischen Roma wurden Ziel von Erschießungen. Patientinnen und Patienten starben durch Kugeln und fielen dem Mord mit Giftgas zum Opfer, anschließend wurden die Anstalts- und Klinikgebäude Wehrmacht oder SS übergeben.Die besetzte Sowjetunion wurde skrupellos ausgebeutet. Millionen Menschen wurden als Zwangsarbei- terinnen und Zwangsarbeiter im Inneren des Deutschen Reichs in Produktion und Landwirtschaft eingesetzt. Zugleich wurden Ernteerträge der Besatzungsgebiete zur Versorgung der Wehrmacht und der Zivilbevölkerung in das Deutsche Reich geschafft. Millionen Einheimischen wurde so die Lebensgrundlage entzogen – mehr noch, sie galten als »unnötige Esser«. Deutsche Dienststellen ließen sie verhungern oder systematisch töten. Ein zentrales Verbrechen stellt die Leningrader Hungerblockade dar, bei der zwischen dem 8. September 1941 und dem 27. Januar 1944 etwa eine Million Zivilistinnen und Zivilisten umkamen. Im Zuge der »Partisanenbekämpfung« und bei ihrem Rückzug zerstörte die Wehrmacht unzählige Dörfer und Siedlungen, vor allem in Belarus. Ein Viertel der dortigen Bevölkerung starb unter deutscher Herrschaft.
Quelle: 2021-06-08. — Beschluss der SPD-Bundestagsfraktion zum 80. Jahrestag des Überfalls auf Sowjetunion
Die Geschichte der Ermordeten und derer, die die Besatzung schwer traumatisiert überlebt haben, inte- ressierte in Deutschland jahrzehntelang nur wenige. In Westdeutschland wollte man sich in der Zeit des Kalten Krieges nicht erinnern. So schlossen die Regelungen des Bundesentschädigungsgesetzes An- tragstellerinnen und Antragsteller mit Wohnsitz jenseits des »Eisernen Vorhangs« generell aus. In der DDR standen der heldenhafte Kampf und der Sieg der Roten Armee über den »Hitler-Faschismus« im Mittelpunkt der staatlich gelenkten Erinnerungspolitik. Die Geschichtsforschung erachtete über lange Zeit eine systematische Beschäftigung mit Schicksalen einzelner Opfer als wissenschaftlich nicht legitim, von wenigen Ausnahmen abgesehen. In der akademischen Debatte hatten je nach Standpunkt mal die Politik-, Diplomatie-, Klassen- und Sozialgeschichte des Nationalsozialismus Konjunktur. Erst mit der an-angs vehement kritisierten Oral History, der Schaffung mündlicher Quellen durch lebensgeschichtliche Interviews, erhielten viele Überlebende eine Stimme.
Erinnern erfordert Aufklärung und historisches Bewusstsein. Gedenken fußt auf Mitgefühl. An allem mangelte es den deutschen Nachkriegsgesellschaften. Hinzu kam Skepsis von Teilen der Öffentlichkeit gegenüber empathischen Gesten, wie beispielsweise dem Kniefall Willy Brandts in Warschau 1970 oder dem Vorhaben, ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas zu errichten. Gerade mit der Errichtung nationaler Denkmäler für NS-Opfer in der Mitte Berlins hat der Bundestag jedoch in den letzten 20 Jahren wichtige emotionale Bezugspunkte geschaffen – Orte, an denen sich die Nachkommen von Opfern und Tätern begegnen können. Bereits am 15. Mai 1997 erklärte eine Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages: »Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen.« Dieser Meilenstein der deutschen Erinnerungspomehr als 50 Jahre nach Kriegsende fiel in eine Zeit gedenkkultureller Umbrüche nach der deutschen Wiedervereinigung. Am 9. Oktober 2020 schließlich stimmte der Deutsche Bundestag dem Antrag »Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs stärken und bisher weniger beachtete Opfergruppen des Nationalsozialismus anerkennen« und damit einer Weiterentwicklung der Gedenklandschaft in der Hauptstadt zu. Damit wurde der Weg für eine Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zur deutschen Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg in ganz Europa, einschließlich Polens, Griechenlands, Jugoslawiens und eben der Sowjetunion, geebnet. Der Alltag der Menschen in Europa unter deutscher Besatzung, ihre Sichtweisen und ihre Selbstbehauptung, aber auch generationsübergreifende Traumata der Nachkriegsgesellschaften und insbesondere die Millionen Opfer zwischen Pyrenäen und Kaukasus, Nordkap und Kreta sollen dort breiten Raum einnehmen. Zugleich beschloss der Deutsche Bundestag am 27. Oktober 2020 einen Erinnerungs- und Begegnungsort, »der dem besonderen Charak- ter der deutschen Besatzung Polens 1939–1945 und der deutsch-polnischen Beziehungen gerecht« wird »und zur Vertiefung der deutsch-polnischen Freundschaft« beiträgt. Beide Projekte sollten nicht vonei- nander losgelöst weiterentwickelt werden.
Mit dieser heutigen Erklärung vom 08. Juni 2021 unterstreicht die SPD-Bundestagsfraktion die fortwährende Aufgabe und historische Verpflichtung, das Leid der Völker, insbesondere auf dem Boden der heutigen Ukraine, von Belarus und den damals besetzten Gebieten der Russischen Föderation, nicht zu vergessen und zu weiterer Versöhnung beizutragen.