Russland hat nach wie vor und im letzten Jahrzehnt wieder verstärkt ein autoritäres, zumindest semi-autoritäres Regime mit starken Rechtsstaatsdefiziten und Korruptionsauffälligkeit (mehr noch als Demokratiedefiziten) sowie eine Gesellschaftsordnung, die staats- und privatkapitalistische Charakteristika kombiniert. Damit befindet es sich im Einklang mit den meisten der anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion und steht keineswegs am unteren Ende der Skala.
Das riesige Land war seit jeher ein Vielvölkerimperium, kein Nationalstaat; politische Freiheit kannte Russland einige Monate nach dem revolutionären Sturz des Zarismus im März 1917. Weil weder die bürgerlichen noch die gemäßigt-sozialistischen Parteien die von der Revolution aufgeworfenen Fragen der Beendigung des Krieges, der Nationalitäten und der Agrarreform zu lösen vermochten und den sozialen Forderungen der selbstbewussten Arbeiterschaft hilflos gegenüberstanden, konnten die Bolschewiki im November 1917 die Macht übernehmen. Nach der Epoche des „realen Sozialismus“ und der sozialen Katastrophe der Jelzin-Ära wurde die Befestigung der Staatsautorität und das dadurch ermöglichte Funktionieren der Institutionen seit der Übernahme der Regierung, dann der Präsidentschaft Wladimir Putins von der großen Mehrheit als Befreiung empfunden, und das gilt auch für den Übergang zu einer unabhängigen, interessengeleiteten Außenpolitik als Großmachtpolitik. Die Russische Föderation ist 1991 durch die Auflösung der Sowjetunion auf ein Territorium zurückgestutzt worden, das dem des 17. Jahrhunderts nahe kommt, wobei Unabhängigkeits- bzw. Autonomiebestrebungen der baltischen, ostslawischen und zentralasiatischen Völker ebenso eine Rolle spielten wie der innere Machtkampf in der russischen Teilrepublik.
Das Ringen um die Welthegemonie wird künftig zwischen den längerfristig absteigenden USA und der rasant aufsteigenden neuen Supermacht China ausgetragen werden. Für Europa ist weiterhin drängender, weil unmittelbarer bedrohlich, die Rivalität zwischen den USA sowie der von ihnen geführten NATO einerseits und Russland andererseits.
Aus russischer Sicht ist die NATO nach der Jahrtausendwende von der Elbe bis an den Bug und weiter vorgerückt. Dass die Ostausdehnung des westlichen Bündnisses von den Regierungen und wohl auch von der Mehrheit der Menschen in den Staaten Ostmitteleuropas und Südosteuropas im Hinblick auf ihre historischen Erfahrungen gewünscht war, ändert an dieser Feststellung nichts – unabhängig davon, in welcher Form und mit welcher Verbindlichkeit 1990 die Begrenzung dieses Vorgangs auf Ostdeutschland zugesagt worden war.
Die geostrategische Verschiebung und der (anders als bis 1990) gerade im konventionellen Bereich inzwischen gegebene, quantitative wie qualitative Vorsprung der NATO nötigt die Russische Föderation nahezu, den Ausgleich durch eine verstärkte atomare Rüstung zu suchen, jedenfalls im Rahmen der immer noch dominierenden sicherheitspolitischen Logik. Die damit angedeutete Konstellation erklärt manche destruktiven Aspekte auch der Außenpolitik Russlands wie das Gegeneinander-Ausspielen von EU-Mitgliedstaaten besser als die nach wie vor vorhandenen autoritären Elemente des dortigen internen politischen Systems.
Der einzige wirkliche Abrüstungsvertrag, der INF-Vertrag von 1987, der mit den atomaren Mittelstreckenraketen eine ganze Waffengattung aus Europa entfernt hatte, ist inzwischen beiderseits zur Makulatur gemacht und von den USA formell gekündigt worden. Es droht auf dem Alten Kontinent eine Erneuerung des Wettrüstens, eine Perspektive, die besonders bedrohlich ist, weil sich – wie im Innern der Ukraine – schnell ungelöste ethnisch-kulturelle Konflikte mit der neuen Ost-West-Konfrontation verbinden können. Neben den Gefahren, die vom künftig möglichen Cyber-Krieg ausgehen, und dem Einsatz modernster Technologien im geplanten konventionellen Kampfgeschehen geht die Entwicklung von Atomwaffen weiter: Überschall-Trägerraketen, „kleine“ Atomwaffen, die die Hemmschwelle beim Einsatz senken, und Abfangsysteme, z. B. mit Tarnkappen-Drohnen. Nicht zuletzt werfen die Fortschritte in der Gentechnik die Frage der biologischen Waffen neu auf.
Der möglicherweise wichtigste Grundgedanke, der dem schrittweisen Übergang zur Entspannungspolitik nach der Kuba-Krise vom Oktober 1962 zugrunde lag, besagte: Man muss sich in den jeweiligen Kontrahenten hineinversetzen, seine Wahrnehmung der Konfliktlagen in der Welt nachvollziehen – nicht um sie einfach zu übernehmen, sondern um zu verstehen, warum er so denkt, wie er denkt, aus seiner Bedrohungsperzeption so handelt, wie er handelt. Diese psychologische Grundvoraussetzung, die ja auch bei persönlichen bzw. privaten Auseinandersetzungen den Schlüssel zur Verständigung liefert, ist im Verhältnis des Westens zu Russland sträflich missachtet worden.
Dabei schien mit der Charta von Paris vom 21. November 1990 die Tür zu einer Ära des Friedens, der Abrüstung und Zusammenarbeit jenseits der Blockkonfrontation geöffnet worden zu sein. Die Formel Michail Gorbatschows vom Gemeinsamen Haus Europa schien für einen kurzen historischen Moment Wirklichkeit zu werden.
Hier gilt es wieder anzuknüpfen. Es geht angesichts der existenziellen globalen Gefahren für die Menschheit – Stichworte sind der Klimawandel und andere Umweltkatastrophen, zerfallende Staaten, die Fluchtwellen mit inzwischen rund 80 Millionen direkt Betroffener und namentlich die diversen regionalen Kriege, Bürgerkriege und militärischen Zuspitzungen – nicht darum, Europa als eine Insel der Seligen zu imaginieren, die sich vom Unheil im Rest der Welt gänzlich abkoppelt. Eine solche Utopie, ob wünschenswert oder nicht, wäre unrealistisch.
Die nördliche Hemisphäre (mit einem oder ohne ein nicht erst in den letzten Jahren mehr über den Pazifik als über den Atlantik blickendes Nordamerika) könnte und müsste aber ein Beispiel setzen für einen konstruktiven Umgang mit Konflikten, für gemeinsame Sicherheit und eine immer engere Kooperation sowie unterschiedliche Formen und Dichtegrade von Integration. Eine solche, sich der bestehenden Institutionen wie der OSZE, des Europarats und der EU sowie der Eurasischen Wirtschaftsunion bedienende und diese weiterentwickelnde Struktur würde partizipatorische und sozialemanzipatorische Tendenzen im Innern der Staaten, auch im östlichen Europa einschließlich Russlands, ermutigen und stärken; sie würden nicht mehr so leicht einem äußeren Gegner zugerechnet werden können. Offenkundig wären die ökonomischen Vorteile eines solchen institutionalisierten paneuropäischen Zusammenwirkens, handelt es sich bei der EU und Russland doch geradezu um komplementäre Wirtschaftszonen.
So wie die Bundesrepublik Deutschland Anfang der 1970er Jahre, beginnend mit dem Moskauer Vertrag vom 12. August 1970, eine ganz wesentliche Rolle bei der Einleitung der Entspannung zwischen den politisch-militärischen Blöcken spielte und nach 1990 lange bemüht war, die erneute Verschärfung zwischen dem Westen und Russland zu verhindern oder wenigstens abzubremsen, so kommt heute der gesamtdeutschen Bundesrepublik eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung dieses Verhältnisses zu. Eine nach der nächsten Bundestagswahl zu bildende neue Regierung, die auf diesem zentralen Feld deutscher Sicherheits- und Außenpolitik den Mut zu einem Neuanfang aufbrächte, befände sich weitaus mehr im Einklang mit der Volksmehrheit als es den Atlantikern in den Medien und unter den professionellen Politikern lieb wäre.
Peter Brandt ist Historiker, Professor im Ruhestand. 2016 war er Mitinitator des Aufrufs der “Initative für neue Entspannungspolitik JETZT” und ist Mitherausgeber der INEP Website. Er war 2019 Mitherausgeber Buchs „Frieden! Jetzt! Überall! Ein Aufruf“
weitere Info: Peter Brandt: Nur als Juniorpartner der USA hat die EU keine Zukunft