Zum Debattenkonvent der SPD am 5. bis 6. November 2022 legten die Naturfreunde Deutschland folgende Stellungnahme vor:
Die doppelte Gefahr der Selbstvernichtung — Plädoyer für ein System der gemeinsamen Sicherheit
I.
Kriege fallen nicht vom Himmel. Ihre Ursachen liegen in internationalen, militärischen wie politischen Machtverhältnissen, in wirtschaftlichen Interessen und hegemonialen Expansionsideologien, auch in sozialen Ungleichheiten, kulturellen Konflikten und heute insbesondere in ökologischen Gefahren, die vom Kampf um Öl und Ressourcen bis zu den heraufziehenden Bedrohungen der vom Menschen verursachten Klimakrise reichen. Neue Antworten für eine europäische und globale Friedenspolitik sind notwendig.
In den 1980er Jahren hat die europäische Sozialdemokratie die programmatischen Voraussetzungen für eine Weltinnenpolitik gelegt. Daran müssen wir heute anknüpfen, statt im Krieg die Begründung für eine Militarisierung der Welt zu sehen. Wir halten es für falsch, wenn Deutschland nunmehr zu dem Land aufsteigt, dass die – je nach wirtschaftlicher Entwicklung – dritt- oder vierthöchsten. Militärausgaben der Welt verzeichnet. Das ist für uns eine unvertretbare Fehlentwicklung, die in einem grundsätzlichen Gegensatz zu der sozialdemokratischen Friedens- und Entspannungspolitik von Willy Brandt steht.
Der Ukraine-Krieg macht deutlich, dass Entspannung und das System der gemeinsamen Sicherheit von der SPD belebt werden müssen.
II.
Die Welt befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch, neue Bedrohungen sind hinzugekommen. Die Pax Americana, die sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts herausgebildet hatte, ist vorbei. China und Russland drängen auf eine Neuordnung der Welt. Nicht nur zwischen Washington und Moskau, sondern auch zwischen Washington und Peking stehen die Zeichen auf Kalten Krieg.
Die USA drängen die Europäische Union, entweder ihre Sicherheit in Europa stärker selbst zu übernehmen oder, wie in dem Konzept der NATO 2030 vorgezeichnet, zu einer „globalen NATO“ zu kommen. Auf jeden Fall sollen die EU-Staaten die Rüstungsausgaben drastisch erhöhen. Die EU zeigt sich aber uneins und zerstritten, nationalistische Bewegungen gewinnen an Boden. Hardliner gewinnen an Boden.
Doch Konfrontation und Aufrüstungsspirale sind perspektivlos. Egon Bahr mahnte zu Recht: „Insofern stehen wir heute vor einer Lage, die qualitativ anders ist und mit keiner geschichtlichen Erfahrung des voratomaren Zeitalters verglichen werden darf. … Wir sind … an einem Abschnitt der Menschheitsgeschichte, in dem Wissen und Fähigkeiten der Menschheit explosiv wachsen, aber Vernunft oder Klugheit, diese Kräfte zu beherrschen, eben nicht.“ Hinzu kommen neue Bedrohungen, die Klimabombe tickt.
Die Sicherheit der Menschen, genauer das Überleben unserer Zivilisation, muss der zentrale Ausgangspunkt der Politik sein. Die Forderung nach Abrüstung, Kooperation und Entspannung als naiv oder fremdgesteuert zu diffamieren, verkennt die Lage der Welt, die auf Gegenseitigkeit angewiesen ist, um die großen globalen Herausforderungen zu bewältigen.
In unserer Zeit, in der die gegenseitigen Verflechtungen und Abhängigkeiten ständig zunehmen, in der sich Krisen grenzüberschreitend auswirken, in der Waffensysteme jeden Punkt der Erde erreichen können, kann internationale Sicherheit keine militärische Frage sein und schon gar nicht einseitig erlangt werden. Notwendig ist ein System gegenseitiger Sicherheit.
Doch die Militärausgaben steigen wieder stark an, sie liegen über 2 Billionen US-Dollar, deutlich höher als in der Zeit der in Ost und West geteilten Welt. Milliarden fließen in neue Atomwaffen. Dabei entfielen 2021 nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI auf die ersten zehn Länder in der globalen Rangliste 62 Prozent der Ausgaben, allein auf die ersten fünf Staaten – USA (778 Dollar), China (252), Indien 72,9), Russland (61,7) und Großbritannien (59,2).
Unser Land hatte nach Angaben von SIPRI 2019 und 2020 den höchsten prozentualen Zuwachs unter den ersten 15 Staaten und liegt mit 54 Milliarden US-Dollar heute auf Platz 7.
Zu der behaupteten Alternativlosigkeit der angeblich unabdingbaren Aufrüstung gibt es eine Alternative, die von der europäischen Sozialdemokratie stammt: Die Idee der gemeinsamen Sicherheit, die heute in einer erweiterten Form, die soziale und ökologische Fragen mit einbezieht, auf die Tagesordnung der nationalen und internationalen Politik gehört.
Gemeinsame Sicherheit ist zuerst die logische Konsequenz aus den mörderischen Waffen, über die alle Seiten verfügen oder verfügen können. Aber auch aus den globalen ökologischen Bedrohungen, die eine Selbstvernichtung unserer Zivilisation möglich machen. Dazu Egon Bahr: „So wie Gegner von gestern zu Partnern einer größeren Einheit heute geworden sind, so müssen die Gegner von heute zu Partnern der größeren, umfassenden Sicherheit von morgen werden.“
Das Kriterium für allgemeine Abrüstung und Entspannung ist das Kant‘sche Prinzip der Vernunft, dessen Gültigkeit unbedingtes Gebot werden muss und jederzeit zu gelten hat, umso mehr in einer Welt, die sich selbst vernichten kann: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Konzept werde“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Leipzig 1785). Dieser kategorische Imperativ des großen Königsberger Philosophen gibt die Richtung vor.
Das bedeutet heute: An die Stelle von Abschreckung und Aufrüstung muss Entspannung und gemeinsame Sicherheit treten. Die Suche nach Gemeinsamkeit ist die Kernforderung in den drei großen UN-Berichten der 1980er Jahre: Gemeinsames Überleben, der Nord-Süd-Bericht von Willy Brandt; Gemeinsame Sicherheit, die Friedens- und Entspannungspolitik von Olof Palme; Unsere Gemeinsame Zukunft, der Report zu Umwelt und Entwicklung von Gro Harlem Brundtland, der das Leitziel der Nachhaltigkeit vertritt. Diese Berichte müssen als Einheit gesehen werden. Sie machen auf der zusammengewachsenen Welt eine gute Zukunft für alle Menschen möglich. Für Nationalismus und Ausgrenzung ist dann kein Platz.
Die Vorschläge der UN-Kommissionen sind angesichts neuer Aufrüstung, zunehmender Konfrontation sowie wachsender sozialer und ökologischer Konflikte wichtiger denn je, um unserer Zeit Orientierung zu geben. Statt des Hobbes’schen Ideals einer übermächtigen Gewalt, welches der Welt eine militärische Ordnung aufzwingt, heißt es bei Olof Palme: „Beide Seiten müssen Sicherheit erlangen, nicht vor dem Gegner, sondern gemeinsam mit ihm“ (Common Security, Berlin 1982). Die Friedens- und Sicherheitspolitik muss in einem größeren Zusammenhang gesehen werden und auch soziale und ökologische Gefahren einbeziehen. Sie verlangen eine Politik der Kooperation von allen Beteiligten: die Fähigkeit, aufeinander zuzugehen und abzurüsten, ohne Konflikte und Unterschiede zu verschweigen. Es wird Zeit, den Olof Palme Bericht der Bundesaußenministerin für ihre Entscheidungen zu empfehlen.
Das bedeutet nicht, dass die alten Konflikte kapitalistischer Gesellschaftssysteme überwunden sind. Im Gegenteil: Durch die Verwertungsdynamik und dem Konsumzwang bleibt die Entwicklung darauf ausgerichtet, ihre eigenen Ressourcen systematisch zu vernutzen. Vor diesem Hintergrund droht das 21. Jahrhundert, wie im HamburgerGrundsatzprogramm der SPD steht, zu einem Jahrhundert erbitterter Verteilungskämpfe und neuer Gewalt zu werden.
Allerdings ist es in dem „neoliberalen und symbolischen Kapitalismus“ (Nancy Fraser), in dem Wall Street, Amazon, Hollywood und Silicon Valleydie globale Meinungsführerschaft übernommen haben, schwieriger geworden, Orientierung zu finden, zumal sich auch autokratische Regierungssysteme ausbreiten. Entfremdung und Schuldzuweisung nehmen zu und daraus resultierend Konfrontation und Aufrüstung.
III.
Der Wiener Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi hat nach den Ursachen der beiden Weltkriege im letzten Jahrhundert geforscht. Er hat den tiefgreifenden Wandel der westlichen Gesellschaftsordnungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Große Transformation beschrieben (The Great Transformation, New York 1944). Sie wurde nicht nur durch die Industrialisierung, sondern auch durch politisches Handeln (oder besser Nichthandeln) verursacht mit weitreichenden Folgen.
Polanyi sah im Zusammenspiel von Marktwirtschaft und Nationalstaat die Grundlagen für die Herausbildung einer „Marktgesellschaft“, deren Kräfte die menschlichen Tätigkeiten erniedrigen, die Natur erschöpfen und Währungen krisenanfällig machen. Das ungeregelte Marktprinzip wurde zur Ursache tiefer Krisen. Die Transformation war die Folge freier Märkte, die mit ihren Verwertungsinteressen das Ziel haben, möglichst schnell einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen. Die liberale Utopie dachte, dass dafür Arbeit, Natur und Geld zu nichts als Waren werden müssten, ohne Rückbindung an die Lebenswelten und Ökosysteme. Für Polanyi war das die „mystische Bereitschaft, die sozialen Konsequenzen ökonomischer Verbesserungen gleich welcher Art hinzunehmen“.
Das unkritische Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Märkte hatte nicht nur gravierende soziale Folgen, sondern führte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammen mit dem Aufkommen der Weltanschauungsdiktaturen zu den großen Katastrophen der beiden Weltkriege und zur Weltwirtschaftskrise.
Die Folgen der „Entbettung“ der Wirtschaft aus gesellschaftlichen Bindungen zogen dabei „Doppelbewegungen“ nach sich. Das „polanyische Pendel“ schlug in zwei Richtungen aus. In den USA zum demokratischen Wohlfahrtsstaat in den 1930er Jahren mit dem New Deal oder der Faschismus und aggressive Nationalismus, die vor allem in Deutschland zur Realität wurden.
Erst nach diesem dunklen Kapitel der Geschichte konnte sich in den westlichen Industriestaaten mit starkem sozialdemokratischem Einfluss der Wohlfahrtsstaat durchsetzen, der bis Ende der 1970er Jahre stabil blieb. Dann kam es zum Aufstieg von Neoliberalismus und Finanzkapitalismus. Erneut erleben wir eine Große Transformation, vorangetrieben durch die Globalisierung der Märkte, die Digitalisierung der Welt und eine neoliberale Politik.
Siegfried Lenz warnte bereits 1998 bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, die Welt stünde „am Rande des Friedens“. Die Gefahr einer Selbstvernichtung der Menschheit bestehe in einem doppelten Sinn – militärisch wie auch ökologisch. Die Frage ist, wieviel erträgt er, unser Planet? Die Überlastung der Natur verändert nicht nur radikal das Leben auf unserem Planeten, sondern kann sogar zur Ursache für Krieg werden, denn die Folgen der Klimakrise werden sich über eine längere Zeit sozial und regional höchst ungerecht verteilen. Die Hauptverursacher werden nicht die Hauptbetroffenen sein.
IV.
Wir sind Bürgerinnen und Bürger einer Welt, auf der wir neu begreifen müssen, wie eine sichere Zukunft aussehen kann und was dafür zu tun ist. Die großen Hoffnungen der Charta von Paris 1990, die das Ziel von Abrüstung und Zusammenarbeit hat und die Überwindung der Paktsysteme wie der nuklearen Bedrohung in Aussicht zu stellen schien, sind mit dem Ukraine-Krieg verflogen. Die atomare Gefahr wird wieder größer und damit ein Krieg, der alles vernichten würde.
Genauso trübe sieht es mit den Rüstungskontroll- und Rüstungsverbotsabkommen aus. Die Aufkündigung des Verbots landgestützter Mittelstreckenraketen (INF), das Ronald Reagan und Michail Gorbatschow 1987 unterzeichnet hatte, war ein schwerer Rückschlag. Damit brach ein zentraler Grundpfeiler der internationalen Sicherheitsordnung weg, der zur Verschrottung von mehr als 2.600 landgestützter Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern geführt hatte.
Das europäische System der Rüstungskontrolle ist zusammengebrochen, auch wenn das New-Start-Abkommen verlängert worden ist, welches die nukleare Stabilität zwischen den USA und Russland geregelt hat, die zusammen über mehr als 90 Prozent aller Atomwaffen verfügen. Sogar in Westeuropa werden Stimmen lauter, die für die Schaffung einer europäischen Atomstreitmacht plädieren. Die Gemeinschaft der Atomwissenschaftler warnt davor. Sie hat die „Weltuntergangsuhr“ bereits auf 100 Sekunden vor 12 Uhr gestellt. So nah stand sie noch nie.
Das Ende des menschlichen Lebens wird auch durch die Überlastung und Zerstörung der Natur denkbar. Schon bald können weitere 1,5 Milliarden Menschen und die Industrialisierung zusammen mit der Erderwärmung, Peak-Oil, Peak-Water und dem Zusammenbruch landwirtschaftlicher Systeme negative Synergien auslösen, deren destruktive Folgen jenseits unserer Vorstellungskraft liegen.
1,5° Celsius, die erste kritische Marke der Erderwärmung, wird 2024 erreicht werden. Derzeit liegt die Kohlendioxid-Konzentration bei 417 ppm und steigt um mehr als 2 ppm pro Jahr an. Seit den Untersuchungen des US-amerikanischen Forschungsrates von 1979 wissen wir, dass bei einer troposphärischen Konzentration von 420 ppm eine globale Erwärmung von 1,5 ° C erreicht wird. Selbst die Pariser Vereinbarungen sind unzureichend und weit weg von einer Umsetzung.
Die Klimakrise spaltet die Welt und gefährdet die Sicherheit. Große Migrationsbewegungen und erbitterte Verteilungskämpfe um Wasser, Ernährung und Land gehören zu den Folgen. Der alte Kolonialismus der Welt findet in neuen ökologischen Formen seine Fortsetzung. Zu erwarten ist, dass ein reicher Teil der Welt versuchen wird, sich in grünen Oasen des Wohlstands von der unwirtlich werdenden Welt abzuschotten. Und dazu gehören dann auch militärische Mittel.
V.
Notwendig ist ein grundlegender Kurswechsel, sowohl durch ein System gemeinsamer Sicherheit als auch durch die sozial-ökologische Gestaltung der Transformation, die zu einer nachhaltigen Entwicklung führen, den Zusammenhalt Europas stärken und weltweit ausstrahlen muss. Die Wegscheide wird immer deutlicher: Entweder kommt es zu einer neuen Phase von Abrüstung, Entspannung und friedlicher Zusammenarbeit oder die globalen Konflikte münden in neuer Gewalt. Kurz: Die Atomwaffen sind der schnelle Selbstmord, der Klimawandel die langsame Selbstvernichtung.
Die Bundesregierung muss sich von zwei überholten Vorstellungen verabschieden. Atomare Abschreckung sorgt nicht für Sicherheit, das Gegenteil ist der Fall. Und auch grünes Wachstum, so hilfreich es in einigen Fragen auch sein mag, kann uns vor der Klimakrise nicht retten.
Deutschland muss dem Atomwaffenverbotsantrag beitreten, den Kauf atomwaffenfähiger Jagdflugzeuge stoppen und jeden möglichen Zugriff auf Atomwaffen ausschließen. Deutschland muss abrüsten und zum Vorreiter bei der sozialen und ökologischen Gestaltung der Transformation werden, um zu einem nachhaltigen Europa zu kommen. Deutschland und Europa müssen abrüsten. Es ist höchste Zeit, das Ruder rumzureißen, damit es zu einer Selbstbehauptung Europas kommt. Andernfalls wird der Ukraine-Krieg zum Pulverfass für Europa und die Welt.
Die SPD muss sich neu beweisen – als Friedens- und Reformpartei.
weitere Info der Naturfreunde: Ein Plan für den Frieden — Argumentationsbroschüre zu Ukraine-Krieg und Gemeinsamer Sicherheit