Die New York Times veröffentlichte am 19. Februar 2019 diese Analyse über die Hintergründe des amerikanisch-russischen Streits über – beiderseitige – Verletzungen des INF-Vertrags. Als mehrfach ausgezeichneter Experte für die Analyse von Raketenabwehrsystemen bietet MIT-Professor Postol mit seinem Beitrag glaubwürdig wichtige technische Hintergrundinformationen und Lösungsvorschläge, um bis zum Ablauf der Galgenfrist für den INF-Vertrag am 01. August 2019 den Vertrag zu retten. Deshalb veröffentlichen wir seinen Text in deutscher Übersetzung.
„In der griechischen Mythologie hatte Pandora eine Box, vor der sie gewarnt worden war, sie auf keinen Fall zu öffnen. Aber ohne Verständnis für die Folgen ihres Handelns und trotz der Warnung, öffnete sie die Box: sie setzte irreversible Seuchen frei, unter denen die gesamte Menschheit für immer leiden würde.
Die amerikanische Drohung, sich aus dem Vertrag über das Verbot von nuklearen Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.000 Kilometern zurückzuziehen, hat ähnliche Folgen für die Menschheit, sollte sie wirklich trotz aller Warnungen und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen durchgezogen werden.
Ein besonders schwieriges Problem ist, dass Russen und Amerikaner sich gegenseitigbeschuldigen, die INF-Vertragsbestimmungen in Europa missachtet zu haben durch Planung oder Stationierung nuklearfähiger Waffen, die einen doppelten („dual-use“) Nutzen haben könnten – sie sind scheinbar defensiv, aber nach kurzfristig möglicher Änderung auch offensiv einsetzbar.
Es ist fair zu sagen, dass beide Seiten der jeweils anderen Seite einen Grund zu Befürchtungen gegeben haben, und das bedeutet, dass die Amerikaner die russische Position ernst nehmen müssen. Wenn beide Seiten nicht von ihren Drohungen, Anschuldigungen und Vermutungen über die andere Seite abrücken, werden beide Seiten das Ende des Vertrages besiegeln.
Folgendes sollte man aber bedenken: Die neuen modernen nuklearfähigen Marschflugkörper werden weitaus gefährlicher sein als diejenigen, die bei der Unterzeichnung des INF-Vertrags 1987 verboten wurden:
Durch Fortschritte in der Computerelektronik wurden Leittechniken wurden konventionell bewaffnete Marschflugkörper produziert, die ihre Routen und Ziele während des Fluges ändern und in der Lage sind, ihre Ziele zu einem programmierten Zeitpunkt mit höchster Präzision anzugreifen.
Mit solchen Fähigkeiten könnten Marschflugkörper zur gleichen Zeit von vielen Orten aus gestartet werden, um zahlreiche Ziele auf einmal zu zerstören. Die mögliche Vorwarnung wäre im besten Fall mehrdeutig, nicht anders als Schatten in einem dunklen Wald zu erkennen.
Diese furchterregenden neuen Fähigkeiten auf beiden Seiten würden das Risiko eines katastrophalen, irrtümlichen Einsatzes von Atomwaffen in einer unvorhergesehenen Krise dramatisch erhöhen.
Wie sind wir soweit gekommen? Der Weg zur aktuellen Krise begann im September 2009, als Präsident Barack Obama eine neue Konzeption für die amerikanische Raketenabwehr in Europa gegen iranische Langstreckenraketen ankündigte. Sie würden die von der George W. Bush-Administration geplanten bodengestützte Raketenabwehrsysteme in Polen und Rumänien ersetzen, und Herr Obama beschrieb seine neuen Konzeption des „European Phased Adaptive Approach“ als das „intelligentere und schnellere“ Abwehrsystem. Die Abschussanlagen hätten viel mehr kleinere und schnellere Abwehrraketen, die von Aegis-Radargeräten gesteuert werden, die normalerweise auf Kriegsschiffen der US-Marine verwendet werden.
Was Obama offenbar nicht wusste, war, dass keines der Radaranlagen für dieses System in der Lage war, weitreichende iranische Atomraketen zu erkennen, um sie mit Abwehrraketen abzufangen.
Das war ein skandalöser Fehler, der nur erklärbar ist durch einen Mangel an technischer Informationen aus dem Pentagon und das Versagen der Politischen Stäbe des Weißen Hauses und des State Department, die versäumt hatten, den Präsidenten auf die Auswirkungen der vorgeschlagenen Veränderungen hinzuweisen.
Präsident Obama wurde also wahrscheinlich nicht darüber informiert, dass die “Aegis Land” -Abschussanlagen in Polen und Rumänien schnell mit offensiven Cruise Missiles bewaffnet werden konnten, die in der Lage sind, mit extrem kurzer Vorwarnzeit Ziele im europäischen Russland schnell und vernichtend anzugreifen.
Mit anderen Worten, die Entscheidung, Aegis-Anlagen an Land in Europa zu stationieren, produzierte keine glaubwürdigen Raketenabwehrfähigkeiten für die Vereinigten Staaten, sondern beschaffte Abschusssysteme, die schnell mit dutzenden – oder gar hunderten von – offensiven Marschflugkörpern bewaffnet werden könnten.
das war der Grund, warum die Russen sofort reagierten, nachdem Obama entschied, mit seinem Plan fortzufahren.
Heute nun erklärte die Trump-Administration, der Grund für den angekündigten Auszug aus dem INF-Vertrag sei die Entwicklung der russischen SSC-8-Marschflugkörper, auch bekannt als 9M729, die anscheinend die klaren Begrenzungen der Reichweiten für Waffen des INF-Vertrages verletzen.
Ich überlasse es anderen, zu beurteilen, ob die Russen damit wirklich gegen den Vertrag verstoßen haben, was ich durchaus für möglich halte. Aber die SSC-8-Rakete scheint genau die Eigenschaften wie die amerikanischen seegestützten Tomahawk Cruise Missiles zu haben. Die Tomahawk wiederum können problemlos an den Aegis-Standorten gelagert und von dort gestartet werden.
Westliche Nachrichtendienste haben oft die russischen Vorwürfe, die amerikanischen Raketenabwehranlagen seien INF-vertragswidrig, als Ablenkungsmanöver dargestellt. Aber die öffentlich zugänglichen Informationen machen deutlich, dass die auf Aegis basierenden Systeme in Osteuropa, wenn ausgerüstet mit Marschflugkörpern, tatsächlich die INF verletzen.
Denn da die Aegis-Systeme so wenig zum Abfangen von iranischen Raketen geeignet sind, wäre es für russische Militärplaner logisch und für die politische Führung Russlands sinnvoll, zu fragen, warum die Vereinigten Staaten entschieden haben, solche Systeme in Osteuropa zu stationieren. Könnte diese Entscheidung der USA auf eine strategische Absicht hinweisen, das System zu erweitern und im Laufe der Zeit zu ändern (was gerade passiert)?
Die Russen bestehen also darauf, dass diese „doppelt verwendbaren” Aegis-Abschussanlagen an Land die Begrenzungen des INF-Vertrags für die Reichweite von offensiven Waffen verletzen. Die amerikanische Regierung argumentiert, ihre Anlagen in Polen und Rumänien stellten keine Bedrohung für Russland dar, weil ihre Computersoftware nicht geeignet sei für den Abschuss von Cruise Missiles.
Aber die mechanischen und elektronischen Komponenten an den Standorten der „Aegis an Land“ unterscheiden sich nicht von den auf Kriegsschiffen der Navy installierten Abschussanlagen, die ja dafür entwickelt wurden, um von den Schiffen aus gleichzeitig sowohl Cruise Missiles als auch Luftabwehrraketen abzuschießen.
Wollte man die amerikanische Position akzeptieren, müsste man glauben, dass ein Computer für das Lesen des einen standardisierten Laufwerks nicht in der Lage wäre, das standardisierte Laufwerk einer anderen Größe oder Marke zu lesen.
Die mit dem Ziel der Erhaltung des INF-Vertrags verbundenen Probleme sind komplex und nicht leicht zu lösen. Beide Seiten haben berechtigte Sorgen, die innerhalb von sechs Monaten ausgeräumt werden müssen, um zu verhindern, dass aus der in diesem Monat angekündigten Aussetzung des UND-Vertrages eine endgültige Kündigung ab 02. August 2019 wird.
Fakten unterstützen die russische Position. Diese Realität muss berücksichtigt werden, wenn die Vereinigten Staaten und Russland (und möglicherweise andere Länder) sich auf eine Kontrolle von Mittelstreckenraketen einigen sollen.
Beide Seiten müssen innehalten und über ihre gemeinsame und vermeidbare Gefahr nachdenken anstatt durch an Argumenten festzuhalten, die für die jeweilige Seite einen militärischen Vorteil bieten.
Amerika muss anerkennen, dass die Obama-Regierung unabsichtlich eine Wahl für ein landgestütztes Raketenabwehrsystem getroffen hat, das für Raketenabwehr ungeeignet ist und stattdessen aussieht wie ein System für Angriffe auf Russland.
Die Trump-Administration muss ihre Extremisten davon abhalten, einen sinnvollen Vertrag zu beenden und die Welt auf einen noch schnelleren Weg zur Vernichtung zu bringen.
Und die Russen müssen aufhören, mit noch bedrohlicheren neuen Raketen zu prahlen – eine dumme und gefährliche Reaktion auf amerikanische Spielchen gegen ihr eigenen Interesse. Alle werden gewinnen, wenn der Wille zum Kompromiss zur Geltung kommt – wenn nicht, werden alle verlieren.
Theodore Postol ist emeritierter Professor für Wissenschaft, Technologie und Nationale Sicherheit am Massachusetts Institute of Technology.
Übersetzung durch die Redaktion (wb). Quelle: 19.02.2019, New York Times, Opinion: Are Trump and Putin Opening Pandora’s Box?, by Theodore Postol