Hamburgs früherer Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) ist der letzte lebende Minister der ersten Bundesregierung unter Willy Brandt. Der Hamburger half 1969 mit, ein sozialliberales Bündnis zu schmieden. Im großen Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt erinnert er sich an die Wahlkämpfe von früher und spricht über zentrale Herausforderungen für die neue Bundesregierung.
Auf die Frage: “Deutschland muss also ganz auf Entspannungspolitik setzen?” antwortete er: “Aber ja! Deutsche Entspannungspolitik der Brandt-Jahre könnte Vorbild in Europa sein”. Im folgenden Antworten auf Klaus von Dohnanyi auf einige außenpolitische Fragen der Hamburger Abendblatts:
- Hamburger Morgenpost: Was werden neben Europa und Klimaschutz die größten Herausforderungen für eine neue Regierung?
Klaus von Dohnanyi: Ein großes Problem wird die Außenpolitik werden.
Der aktuelle Konflikt zwischen Frankreich auf der einen Seite und Großbritannien, den USA und Australien auf der anderen zeigt, dass Konflikte im Fernen Osten Auswirkungen in Europa haben werden.
Die bisherige Politik gegenüber Russland war ein großer Fehler: Sie hat das Land an die Seite Chinas getrieben. Ich habe im Jahr 1973 als Bundesminister China besucht. Mein Gastgeber damals war Deng Xiaoping, ein ungeheuer eindrucksvoller Mann. China hatte damals vor nichts so viel Sorge wie vor einem Angriff der Sowjetunion. Heute ist Russland ein Alliierter Chinas! Das war das Werk des Westens, einer verfehlten Russlandpolitik, insbesondere wegen der Nato-Erweiterung.
Druck auf China könnte heute dazu führen, dass Russland als nun Alliierter Chinas seinerseits in Europa Druck macht.
- Dieser Druck ist ja schon spürbar …
Henry Kissinger hat sich kürzlich dazu geäußert. Manche vergleichen die Situation heute schon mit der Zeit vor 1914, als Großbritannien versucht hatte, Deutschlands Aufstieg zu blockieren. Heute haben wir eine ähnliche Lage zwischen den USA und China.
- Haben Sie Sorgen, dass wie 1914 der Machtkampf in einem Krieg eskaliert?
Auch 1914 wollte keiner den Krieg, aber am Ende ist so viel Druck entstanden, dass es zum Weltkrieg kam. Europa muss dazu beitragen, dass es zwischen den USA und China nicht zu bedrohlichen Spannungen kommt, die könnten dann auch Europa treffen.
- Die Lage ist gefährlich. Wie sollten wir uns denn im Konflikt der USA mit China und mit Russland positionieren?
Wir sollten uns in die Konflikte im asiatischen Raum nicht hineinziehen lassen. Ich halte Putin auch nicht für einen zuverlässigen Menschen, aber im deutschen Interesse kann es nicht sein, dass in Europa jemand uns feindlich gesonnen ist. Wir müssen deswegen mit Putin im Gespräch bleiben.
- Also sollte Europa freundlicher mit Putin umgehen?
Sachlicher. Wir haben kein Interesse daran, die Russen auf die Seite der Chinesen zu treiben. Unsere nationalen Interessen müssen im Vordergrund stehen. Ein Machtkampf mit China liegt nicht in unserem Interesse.
- Liegt es nicht im deutschen Interesse, seine eigenen Interessen etwas zurückzunehmen?
Das kommt immer auf den Einzelfall an. Unser Interesse kann natürlich auch im Nachgeben oder im Kompromiss liegen. Man muss nur wissen, was man will – und was man kann! Man sollte sich nicht Dinge vornehmen, die nicht klappen können – wie Russland über Nacht durch Wirtschaftssanktionen zu einer Demokratie zu machen!
Pragmatismus ist wichtig. Das hat Frau Merkel exzellent gemacht. Sie wusste, was wir können und was nicht. Mit Kompromissen hat sie in Europa viel geschafft.
- Deutschland muss also ganz auf Entspannungspolitik setzen?
Aber ja! Deutsche Entspannungspolitik der Brandt-Jahre könnte Vorbild in Europa sein.
Das sehen die Amerikaner anders: Schon die ersten Siedler waren ja Eroberer, die USA wurden gewissermaßen mit dem Colt geboren. Das ging ja auch nicht anders. Eroberungen sind ihre Geschichte. So haben sie sich Florida geholt, so haben sie sich New Mexico geholt und Texas.
- Mehr Pragmatik, weniger Moral?
Da bin ich ganz bei Helmut Schmidt: „Es ist sehr gut, dass wir auf unsere Werte achten, aber wir müssen nie versuchen, sie anderen Leuten beizubringen.“ Das ist auch meine Grundüberzeugung.
Es ist gefährlich, wenn die Amerikaner nun den Chinesen ihre Werte beibringen wollen. Das funktioniert nicht. Ich halte es auch für völlig illusorisch zu glauben, dass wir Russland mit ein paar Sanktionen dazu bringen, sein System zu verändern. Die Länder haben alle ihre eigene Geschichte!
Quelle: 2021-09-25. — (Hamburger Abendblatt) – Klaus von Dohnany im Interview mit Matthias Iken, Stellvertretender Chefredakteur