von Joachim Schuster, MdEP
Eine geopolitische Konfrontationslogik ist perspektivlos
Angesichts der geopolitischen Umbrüche ist es wenig sinnvoll und erfolgversprechend, eine neue globale Sicherheitsarchitektur auf der bipolaren Konfrontationslogik aufzubauen, und zwar aus mehreren Gründen:
Schon die erste Erfolgsvoraussetzung für eine Konfliktstrategie, eine weitgehende Interessenidentität mit politisch gleichgerichteten Konzeptionen sind im westlichen, demokratischen Lager nicht gegeben. Solange die USA politisch tief gespalten sind, sind sie nur schwer berechenbar für die europäischen Partner. Trotz der raschen gemeinsamen Reaktionen auf die Corona-Krise wie auch auf den russischen Angriffskrieg ist auch der Zusammenhalt der EU keineswegs gesichert. Die unterschiedliche Betroffenheit und die unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten bezüglich der ökonomischen Folgen des Krieges und der großdimensionierten Energiekrise in Europa verdeutlichen das innereuropäische Konfliktpotential.
Eine dauerhafte Konfliktstrategie beinhaltet zweitens ein gefährliches militärisches Eskalationspotential. Selbst der Einsatz von Atomwaffen ist durch die Drohungen Putins eine reale Bedrohung geworden.
Und schließlich sind die Bewältigung des Klimawandels und eine deutliche Reduzierung globaler Armut – die ja durch den Klimawandel in den nächsten Jahren noch zunehmen wird und für viele Menschen etwa in Hungersnöten zur existenziellen Bedrohung wird – in einem konfrontativen Umfeld deutlich schwerer, wahrscheinlich sogar überhaupt nicht zu erreichen.
Eckpunkte einer modernen Entspannungspolitik
Statt globaler Konfrontation gilt es eine alternative internationale Politik zu entwickeln, die einerseits den neuen militärischen Bedrohungen etwas entgegensetzt und andererseits eine neue Qualität globaler Kooperation zur Bekämpfung des Klimawandels und der globalen Armut mit zu erwartenden großdimensionierten Hungersnöten ermöglicht. Die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr ist in diesem Kontext keineswegs überholt. Im Gegenteil, sie bietet wichtige Orientierungspunkte für die neue zu entwickelnde Politik globaler Kooperation.
Entspannungspolitik in der Systemkonfrontation basierte nie auf einem naiven Glauben, durch wirtschaftliche Zusammenarbeit würden gegenseitige Vorteile und Abhängigkeiten geschaffen, die es für die beteiligten Staaten unsinnig machen würden, gegeneinander Kriege zu führen. Ebenso wenig glaubte man an die Friedfertigkeit der Sowjetunion. Entspannungspolitik versuchte vielmehr ein realistisches Bild der Interessen der beteiligten Staaten zu entwickeln.
Gleichzeitig konnte in beharrlicher Überzeugungsarbeit verankert werden, dass im Zeitalter von Atomwaffen ein Kriegzwischen den Systemen keinen Sieger haben wird und unter allen Umständen verhindert werden muss. Damit verbunden waren Bestrebungen, die Wahrung der territorialen Integrität aller Staaten völkerrechtlich zu verankern. Die Stärke des Rechts sollte das Recht des Stärkeren ablösen. Internationale Organisationen wie die UN oder die OSZE erhielten eine zentrale Bedeutung.
Militärisch basierte die Entspannungspolitik auf hinreichenden Abschreckungsfähigkeiten, und der Notwendigkeit beiderseitige Abrüstung und Rüstungskontrolle verbindlich zu vereinbaren. Das beruhte auf der Erkenntnis, dass Sicherheit dauerhaft nur gemeinsam gewährleistet werden kann (Bahr über Palme-Report 1982: ‚Doktrin der Gemeinsamen Sicherheit‘). Die im Laufe der Zeit intensivierte wirtschaftliche Kooperation diente dazu, die gegenseitige Vorteilhaftigkeit der Zusammenarbeit zu unterstreichen. Die Entspannungspolitik entfaltete ihre Wirkmächtigkeit nicht von heute auf morgen, sondern konnte sich erst in einem längeren diplomatischen Prozess durchsetzen. Ausgangspunkt war übrigens die Kuba-Krise als Ergebnis einer vorhergehenden Phase der Konfrontationspolitik zwischen den USA und der Sowjetunion, die die Welt an den atomaren Abgrund geführt hatte. Zu diesen Elementen gesellte sich in der 80er Jahren das Konzept der umfassenden Sicherheit. Dies fußte auf der schlichten Erkenntnis, dass dauerhafter Frieden nur zu erreichen ist, wenn wichtige Konfliktursachen wie Umweltschädigungen und Hunger parallel bekämpft werden.
Sicherlich wird es in der heutigen multipolaren Welt schwieriger sein, eine moderne Entspannungspolitik im Detail zu konzipieren. Zudem gibt es heute keine unangefochtenen Hegemonialmächte in ihrem jeweiligen Lager, sondern im Gegenteil eine Auseinandersetzung um eine globale Hegemonie zwischen den USA und China. Aber es kann angeknüpft werden an Erkenntnisprozesse der internationalen Staatengemeinschaft in den letzten Jahrzehnten auch wenn diese noch nicht mit adäquaten politischen Umsetzungsstrategien unterlegt sind. So hat die Staatengemeinschaft mit der Verabschiedung des Pariser Klimaabkommen anerkannt, dass der Klimawandel nur zu stoppen ist, wenn alle Staaten dem Klimaschutz eine herausgehobene Priorität zukommen lassen. Und auch die immer wieder betonten Sustainable Development Goals der UN belegen die Einsicht, dass Entwicklung alle begünstigen muss.
Aktuelle Handlungsfelder
Auf die aktuelle Lage bezogen ergeben sich daraus aus meiner Sicht folgende Handlungsfelder:
Es wird die militärische, politische und wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine fortgesetzt werden müssen. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass dabei weder die EU-Staaten noch die NATO zur Kriegspartei werden. Das setzt Grenzen bei Waffenlieferungen. Wichtig ist zudem, dass immer wieder parallel diplomatische Initiativen ergriffen werden, um verheerende Eskalationen des Krieges zu vermeiden, humanitäre Hilfen zu ermöglichen und perspektivisch einen Waffenstillstand als Ausgangspunkt für Friedensverhandlungen zu erreichen. Das Diplomatie erfolgreich sein kann zeigen die Verhandlungen zu den Getreideausfuhren wie die Bemühungen um die Sicherheit des Atomkraftwerks in Saporischschja. Und auch auf der letzten UN-Vollversammlung im Dezember haben sich wichtige Staaten der Weltgemeinschaft wie u.a. China und Indien für diplomatische Initiativen zur Beendigung des Krieges ausgesprochen.
Die Entscheidung, die Verteidigungsfähigkeit der europäischen Staaten deutlich zu verbessern, ist ein weiterer richtiger Schritt. Allerdings darf dies nicht der Beginn einer dauerhaften militärischen Aufrüstungsspirale werden. Abstrakte Festlegungen, dass der Verteidigungsetat der NATO-Staaten dauerhaft bei zwei Prozent des BIP liegen sollte, sind Unsinn, zumal schon heute die europäischen NATO-Staaten jährlich dreimal so viel Geld für Rüstung ausgeben wie Russland. Bestrebungen, dass die europäischen Staaten sich auch militärisch im indo-pazifischen Raum engagieren sollen, sollten ebenfalls abgelehnt werden. Und es gilt auch heute schon die Anstrengungen zu verstärken, um internationale Vereinbarungen zu Abrüstung und Rüstungskontrolle in Europa wie global zu erreichen.
Sämtliche Schritte in diesem Kontext sollten in enger Absprache innerhalb der EU vorgenommen werden. Das dabei Deutschland als größtem und wirtschaftlich stärksten Mitgliedstaat eine herausgehobene Bedeutung zukommt, steht außer Frage. Das heißt aber vor allem, dass Deutschland immer wieder Initiativen ergreifen und Anstöße geben muss. Das sollte aber nicht verwechselt werden mit einer Führungsrolle, wie sie von manchen gefordert wird. In der EU kann und wird es auf absehbare Zeit keine führenden Länder auf der einen Seite und geführte Länder auf der anderen Seite geben.
Die EU darf ihr Engagement nicht auf den europäischen Kontinent beschränken. Als zivile und wirtschaftliche Großmacht ist die EU prädestiniert für eine herausragende Rolle zur Schaffung einer multilateralen Ordnung des Rechts, die die weltweite Bekämpfung des Klimawandels und die Bekämpfung von Armut und Hungersnöten in den Mittelpunkt stellen sollte.
Eine moderne Form der Entspannungspolitik wird angesichts der gravierenden Destabilisierung durch den russischen Angriffskrieg nicht kurzfristig zu einer neuen stabilen Friedensordnung führen, weder in Europa noch global. Vieles braucht einen langen Atem und manche Rückschläge werden zu verkraften sein. Ebenso wenig gibt es eine Blaupause für die zu ergreifenden Handlungsschritte. Das sollte aber nicht dazu führen, einer vermeintlich einfacheren aber im Ergebnis verheerenden Konfrontationspolitik zu folgen.
Joachim Schuster
über den Autor: Joachim Schuster, MdEP ist einer der Initiatoren des Aufrufs zum Antikriegstag 2022 „Die Waffen müssen schweigen!”, für den er gemeinsam mit seinem EP-Kollegen Dietmar Köster (MdEP) und den beiden MdB Jan Dieren und Jens Peick die Initiative dazu ergriffen hatten. Unter den Erstunterzeichner sind u.a. Constanze Krehl (damals noch MdEP), Carsten Sieling (ehemaliger Präsident des Senats in Bremen), Thomas Westphal (Oberbürgermeister in Dortmund), Peter Brandt (Historiker und Publizist), Michael Müller (Bundesvorsitzender der Naturfreunde, ehem. MdB und parlamentarischer Staatssekretär).