In Deutschland kommen Stimmen aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft, die über die auf Panzerlieferungen verengte Debatte hinaus Wege zur Deeskalation und Beendigung des Ukrainekriegs in den Medien nur selten zu Wort. In den USA ist die Debatte in den Medien weit offener. Ein Beispiel ist die amerikanischen Ausgabe des Economist, der am 18. Januar 2023 einen Beitrag des international bekannten US-Wirtschaftswissenschaftlers Jeffrey Sachs veröffentlicht, in dem er begründet, warum neutrale Länder in Verhandlungen zwischen Russland und Ukraine unbedingt einbezogen werden sollten. Wie danken Jeffrey Sachs für seine Unterstützung für die Veröffentlichung seines von uns informell ins Deutsche übersetzten Diskussionsbeitrags:
Gründe dafür, dass neutrale Länder zwischen Russland und der Ukraine vermitteln sollten
Weder Russland noch die Ukraine werden in ihrem anhaltenden Krieg wahrscheinlich einen entscheidenden militärischen Sieg erringen: Beide Seiten haben erheblichen Raum für tödliche Eskalationen. Die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten haben kaum eine Chance, Russland von der Krim und der Donbass Region zu vertreiben, während Russland kaum eine Chance hat, die Ukraine zur Kapitulation zu zwingen. Wie Joe Biden im Oktober feststellte, dass mit der Eskalationsspirale erstmals seit der kubanischen Raketenkrise vor 60 Jahren die Gefahr eines „nuklearen Armageddon” droht.
Der Rest der Welt leidet mit, wenn auch nicht im Ausmaß wie auf dem Schlachtfeld. Die Volkswirtschaften der Entwicklungsländer kämpfen mit wachsendem Hunger und zunehmender Armut. Europa befindet sich wahrscheinlich in einer Rezession. Volkswirtschaften der Entwicklungsländer kämpfen mit zunehmendem Hunger und Armut. Amerikanische Rüstungsunternehmen und Ölkonzerne machen Gewinne, während die amerikanische Wirtschaft insgesamt sich verschlechtert. Die Welt leidet unter erhöhter Unsicherheit, unterbrochenen Lieferketten und der Gefahr einer nuklearen Eskalation.
Jede Seite mag sich für die Fortsetzung des Krieges entscheiden, wenn sie glaubt, einen entscheidenden militärischen Vorteil gegenüber dem Gegner zu haben. Aber zumindest eine der Parteien würde sich mit ihrer Ansicht irren, wahrscheinlich sogar beide. Ein Zermürbungskrieg wäre für beide Seiten verheerend.
Der Krieg könnte aber auch aus einem anderen Grund vorangetrieben werden: wenn keine der beiden Seiten die Möglichkeit eines umsetzbaren Friedensabkommens sieht. Die ukrainische Führung glaubt, Russland würde jede Kampfpause nutzen, um sich besser zu gruppieren. Die russische Führung glaubt, die NATO würde jede Kampfpause nutzen, um die ukrainischen Waffenarsenale auszubauen. Sie ziehen es vor, jetzt zu kämpfen, anstatt sich später einem stärkeren Feind zu stellen.
Die Herausforderung besteht darin, einen Weg zu finden, der ein Friedensabkommen akzeptabel, glaubwürdig und durchsetzbar macht. Ich meine, dass die Argumente für einen Verhandlungsfrieden auf breiterer Basis angehört werden müssen, um zum einen die Ukraine davor zu bewahren, zu einem ewigen Schlachtfeld zu werden, zum andern, weil ein Verhandlungsfrieden für beide Seiten und den Rest der Welt von Vorteil sind. Es gibt gute Argumente für die Einbeziehung neutraler Länder bei der Verwirklichung einer Friedensregelung, von der viele profitieren würden.
Eine glaubwürdige Vereinbarung müsste zunächst den grundlegenden Sicherheitsinteressen beider Parteien gerecht werden. So wie John F. Kennedy auf dem Weg zum Erfolg des Atomwaffen-Teststopp-Vertrags (LTBT) mit der Sowjetunion 1963 klug formulierte, “kann man sich darauf verlassen, dass selbst die feindlichsten Nationen die Vertragsverpflichtungen akzeptieren und einhalten, weil sie in ihrem eigenen Interesse liegen.”
In einem Friedensabkommen müsste der Ukraine ihre Souveränität und Sicherheit zugesichert werden, während die NATO zusagen müsste, sich nicht nach Osten zu erweitern. (Obwohl die NATO sich selbst als Verteidigungsbündnis bezeichnet, fühlt sich Russland sicher anders und lehnt die NATO-Erweiterung entschieden ab.) In Bezug auf die Krim und die Donbass-Region müssten einige Kompromisse gefunden werden, vielleicht durch Einfrieren und Entmilitarisierung dieser Konflikte für einen bestimmten Zeitraum. Eine Einigung wird auch nachhaltiger sein, wenn sie mit der schrittweisen Aufhebung der Sanktionen gegen Russland und einer Vereinbarung sowohl Russlands als auch des Westens verbunden wird, zum Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Gebiete beizutragen.
Der Erfolg kann durchaus davon abhängen, wer in die Bemühungen um Frieden und dessen Durchsetzung einbezogen wird. Da die kriegführenden Parteien einen solchen Frieden nicht allein schmieden können, liegt eine wichtige strukturelle Lösung darin, weitere Parteien in das Abkommen einzubeziehen. Neutrale Staaten wie Argentinien, Brasilien, China, Indien, Indonesien und Südafrika haben sich wiederholt für eine Beendigung des Konflikts auf dem Verhandlungsweg ausgesprochen. Sie könnten zur Durchsetzung eines etwaigen Abkommens beitragen.
Diese Länder sind weder Russland-Hasser noch Ukraine-Hasser. Sie wollen weder, dass Russland die Ukraine erobert, noch dass der Westen die NATO nach Osten erweitert, was viele als Provokation nicht nur für Russland, sondern vielleicht auch für andere Länder ansehen. Ihr Widerstand gegen die NATO-Erweiterung hat sich verschärft, weil amerikanische Hardliner das Bündnis aufforderten, die Auseinandersetzung mit China aufzunehmen.
Neutrale Länder waren überrascht über die Teilnahme führender asiatisch-pazifischer Politiker aus Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland an einem Gipfeltreffen der “nordatlantischen” Länder im vergangenen Jahr.
Die friedensstiftende Rolle der großen neutralen Länder wäre entscheidend für einen Erfolg. Russlands Wirtschaft und seine Kriegsfähigkeit hängen vom Fortbestehen enger diplomatischer Beziehungen und des internationalen Handels mit diesen neutralen Ländern ab. Als der Westen Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängte, machten wichtige Schwellenländer wie Indien nicht mit. Sie wollten sich nicht für eine Seite entscheiden und unterhielten enge Beziehungen zu Russland unterhalten.
Diese neutralen Länder sind wichtige Akteure in der Weltwirtschaft. Nach Schätzungen des IWF zum BIP bei Kaufkraftparität war die kombinierte Produktion von Argentinien, Brasilien, China, Indien, Indonesien und Südafrika (51,7 Milliarden Dollar oder fast 32 % der Weltproduktion) im Jahr 2022 größer als die der G7-Staaten, Amerikas, Großbritanniens, Kanadas, Frankreichs, Deutschlands, Italiens und Japans. Die Schwellenländer sind auch für die globale Wirtschaftspolitik von großer Bedeutung und werden vier Jahre in Folge den G20-Vorsitz innehaben sowie Führungspositionen in wichtigen regionalen Gremien. Weder Russland noch die Ukraine wollen die Beziehungen zu diesen Ländern verschlechtern, was sie zu wichtigen potenziellen Garanten des Friedens macht.
Darüber hinaus werden viele dieser Länder versuchen, durch Hilfe bei den Friedensverhandlungen ihren diplomatischen Ruf zu stärken. Einige von ihnen, darunter natürlich Brasilien und Indien, sind seit langem Anwärter auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat.
Die Architektur eines Friedensabkommens könnte z.B. ein Abkommen sein, das vom UN-Sicherheitsrat gemeinsam mit mehreren der großen Schwellenländern garantiert wird. Neben den oben genannten Ländern kommen möglicherweise als Garanten auch infrage die Türkei (die bei den Gesprächen zwischen Russland und der Ukraine geschickt vermittelt hat), Österreich, das auf seine dauerhafte Neutralität stolz ist, oder Ungarn, das in diesem Jahr den Vorsitz der UN-Generalversammlung hat und wiederholt sich für Verhandlungen zur Beendigung des Krieges einsetzte.
Der UN-Sicherheitsrat und die Mitgaranten würden von der UNO vereinbarte Handels- und Finanzsanktionen gegen jede Partei verhängen, die das Friedensabkommen bricht. Die Umsetzung solcher Maßnahmen würde nicht dem Vetorecht der vertragsbrüchigen Partei unterliegen. Russland und die Ukraine müssten auf das Fairplay der neutralen Länder vertrauen, um den Frieden und ihre jeweiligen Sicherheitsziele zu sichern.
Es macht keinen Sinn, die Kämpfe in der Ukraine weiterzuführen. Voraussichtlich wird keine der beiden Seiten einen Krieg gewinnen, der derzeit die Ukraine verwüstet, Russland enorme Kosten in Form von Menschenleben und Kosten auferlegt und weltweit Schaden anrichtet. Wichtige neutrale Länder könnten in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen als Garanten für den Beginn einer neuen Ära des Friedens und des Wiederaufbaus auftreten. Die Welt sollte nicht zulassen, dass beide Seiten ihre rücksichtslose Eskalationsspirale fortsetzen.
Quelle: 2023-01-18.– The Economist: Jeffrey Sachs on why neutral countries should mediate between Russia and Ukraine. Zur Person: Professor Jeffrey D. Sachs ist Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia Universität und Präsident des UN Sustainable Development Solutions Network. Er war Berater von drei UN-Generalsekretären und ist SDG-Beauftragter von Generalsekretär Antonio Guterres. In den Wirtschaftsteams des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow, des russischen Präsidenten Boris Jelzin und des ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma war er Berater. der sich – oft vergeblich – für massive westliche Hilfe zur Unterstützung des postkommunistischen Übergangs zur Marktwirtschaft einsetzte.
Dieser Artikel ist Teil einer Reihe von Beiträgen zur Debatte über die Möglichkeiten von Friedensgesprächen zwischen der Ukraine und Russland. Ein gegenteiliges Argument finden Sie im Artikel von Mona Juul. https://www.economist.com/by-invitation/2023/01/18/mona-juul-says-russia-ukraine-talks-would-be-premature-but-preparing-for-them-would-not
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