Vor 10 Jahren, um 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion erklärte der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Gernot Erler:
Wir gedenken heute vor allem der Opfer, der Zerstörungen und des millionenfachen Leids, das vom Beginn des rassistischen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion am 22. Juni 1941 ausgegangen ist. Dieser Krieg zur Gewinnung von “Lebensraum im Osten”, zur Beendigung der “Judenherrschaft in Russland” und zur Dezimierung und Verdrängung der “minderwertigen slawischen Rasse” wird für immer zu den düstersten Kapiteln deutscher Geschichte gehören. Wie dafür gesorgt wurde, dass mindestens 27 Millionen Menschen in dem angegriffenen Land ums Leben kamen, dass 3,2 von fünf Millionen sowjetischer Kriegsgefangenen nicht überlebten und dass in der belagerten Stadt Leningrad 800.000 Menschen in 900 Tagen regelrecht krepieren mussten – das bleibt auch für Generationen danach, auch 70 Jahre später, immer von neuem erklärungsbedürftig und erfordert eine besondere Erinnerungskultur.
Immer wieder muss man es als Wunder bezeichnen, dass sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland aus diesem Trauma heraus über die Jahrzehnte hinweg positiv entwickeln konnten. Wir bezeichnen uns heute wechselseitig als “strategische Partner”, freuen uns über intensivste Wirtschaftsbeziehungen, sehen den Ergebnissen des im Mai dieses Jahres eröffneten deutsch-russischen Wissenschaftsjahres erwartungsvoll entgegen und bereiten uns für 2012 bereits auf das “Deutschlandjahr in Russland” und das “Russlandjahr in Deutschland” vor. Die vielbeschworene “Modernisierungspartnerschaft” soll eine neue Qualität von Zusammenarbeit mit sich bringen, über 100 Städtepartnerschaften sorgen für menschliche Begegnungen vor Ort und der “Petersburger Dialog” bemüht sich seit einem Jahrzehnt, die Zivilgesellschaften beider Länder zu einem echten Austausch zu bewegen.
Der heutige Gedenktag, der offiziell längst nicht den Rang des 27. Januar erreicht, an dem weltweit der Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird, lenkt den Blick aber auch auf Schatten um dieses Wunder herum. Sie betreffen Defizite in unserer Erinnerungskultur. Es ist gut, dass genau heute, am 22. Juni, in Moskau die internationale Wanderausstellung “Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg” eröffnet wird, die zuvor fünf Monate lang in Berlin gezeigt wurde. Aber wer spricht davon? Und auch der Deutsche Bundestag beschäftigt sich zwar mit der Frage, hat aber bislang noch keine Lösung für das Problem gefunden, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen als eine mehrfach betroffene Opfergruppe des “Unternehmens Barbarossa” bis heute weder Zugang zu irgend einem Entschädigungsprogramm noch wenigstens eine offizielle Geste der Würdigung erfahren haben. Dies allein unterstützenswerten Privatinitiativen und Vereinen wie KONTAKTE zu überlassen oder gar der näher rückenden biologischen Lösung, ist in keiner Weise akzeptabel. Ausdrücklich begrüßen wir die von der “Aktion Sühnezeichen” koordinierte Initiative “Vergessene Opfer des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion”, die eindringlich noch einmal dazu mahnt, das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen wie der Zivilbevölkerung endlich in angemessener Weise in unsere Gedächtnisarbeit einzubeziehen.
Die für den 30. Juni vereinbarte Bundestagsdebatte zum Thema “70. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion” bietet Gelegenheit, sich zu diesen bisher ungelösten Herausforderungen auszutauschen.