Stephan Ohme berichtet über seine Beobachtungen während seiner Arbeit als Senior Adviser in Amman/Jordanien, dem Sitz der meisten UN-Organisationen in und für die Region des Nahen Osten. Als Redaktion von “Neue Entspannungspolitik JETZT” veröffentlichen wir seinen persönlichen Bericht auch als Aufforderung, mehr nachzudenken darüber, welche Massnahmen und Mittel notwendig sind, um zur “Bekämpfung der Fluchtursachen” beizutragen:
Flucht im Labyrinth
Umgeben von Irak, Syrien, Palästina, Israel, Saudi-Arabien liegt eine politische Insel, die scheinbar stabil und unberührt blieb. Jordanien. Zuflucht von 600.000 Flüchtlingen aus Syrien, Sitz aller UN-Organisationen auch für die Region, autoritär geleitet durch einen aufgeklärten König, der politisch regional vermittelt und (allerdings vergeblich) Trump versuchte abzuhalten, die US- Botschaft in Israel nach Jerusalem zu verlagern. Zunehmend verschuldet und überfordert, Stabilität in dieser unruhigen Region zu sichern, mangels eigener Ressourcen in schlechter wirtschaftlicher Lage, findet man dennoch an jeder Straßenecke eine Bank (privates Kapital aus der Golfregion im „sicheren Hafen“?), noch mehr Apotheken, in denen (fast) alles ohne Rezept zu bekommen ist. Und große Shopping-Malls für alles, was man auch in deutschen Kaufhäusern fände. Alles importiert, bis auf eine kleine Brauerei, die köstliches Craft Bier (Pale Ale) für westliche Mägen braut. Selbst im Ramadan sind viele Bars geöffnet.
Arabische Gastfreundschaft steht hoch im Kurs, nur nicht im Straßenverkehr, wo jeder gegen jeden kämpft bei Millimeterarbeit an den Kreuzungen. Die große Zahl der SUVs und Luxus-Karossen spricht eine eigene Sprache.
Widersprüche allerorten:
Das größte Flüchtlingslager in Jordanien (Zaatari) mit ca. 90.000 Flüchtlingen hat eine 2 km lange Einkaufsstraße (Champs Elysees genannt), die Waschmaschinen und Linsen, Fernseher und PCs wie Schuhe bietet. Für Flüchtlinge, die ca. 30 € internationaler Hilfe im Monat auf eine Kreditkarte überwiesen bekommen, mit der sie Nahrung (aber keine Zigaretten) kaufen können. Und im übrigen ihre Reserven verzehren. Familien, die stets gemeinsam kochen, leben, zusammenhalten, von Erspartem und Verkauftem ihren täglichen Bedarf kärglich finanzieren. Wenn sie nicht sogar – als potentielle ISIS-Anhänger und noch nicht von der Sicherheitspolizei geprüft, isoliert und kaserniert sind. So leben Tausende in einem separaten Fluchtlager, aber auch hier international versorgt und mit Zugang zu einem Supermarkt haben, in dem sie wie alle Flüchtlinge mit Iris-Scan (!!) an der Kasse sich ausweisen und bezahlen, um durch einen kleinen Ausdruck dann den Stand ihres Hilfs-Kontos zu erfahren. Oder mit einer Kreditkarte bei einem Geldautomaten sogar Bargeld abzuheben.
Diese Hilfe auf ein individuelles Konto, vom World Food Program der Vereinten Nationen und z.T. anderen Organisationen verwaltet, wird u.a. von Deutschland durch jährliche Zuwendungen gespeist. Deutschland zeigt sich als primärer Geber für die UN-Organisationen (zunehmend auf 1.2 Mrd. allein in 2016 für die Region) bei komplexen Maßnahmen der Unterstützung auch im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit etc..
Und dennoch reicht es nicht. Da nordische Staaten zwar ebenfalls geben, die USA sich jedoch zunehmend zurückhalten, Großbritannien (UK), Frankreich, Japan bescheidenere Beiräge leisten. Nur die EU, auch von Deutschland mit finanziert, gibt reichlich. Vorrangig in die schwierige Türkei, wo allein ca. 2,5 Mio. der Flüchtlinge leben. Von insgesamt ca. 12 Mio. Flüchtlingen und Vertriebenen in und aus Syrien und der Region. Wo sich (weiterhin) Daesh/ISIS neben Al Qaeda, kurdischen Gruppen, inner-syrischer Opposition, Assad und seinen Truppen auch von Hizbollah (Libanon) gefördert, im Wettstreit mit der Türkei, Iran, Russland, Golf-Staaten, USA, mittlerweile auch Israel, vermittelnd von den Vereinten Nationen (UN) im Rahmen internationaler Verhandlungen in unterschiedlichen Foren begleitet, ein Stelldichein geben.
Einige Fakten zur Lage der Flüchtlinge:
6,1 Millionen Binnenvertriebene in Syrien, davon 750.000 Menschen in Elends-Lagern und täglich werden durchschnittlich weitere 6.550 Menschen vertrieben.
5,3 Millionen Menschen sind in Nachbarländern als Flüchtlinge registriert
8,2 Millionen Menschen leben in kontaminierten Gebieten, 33 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen sind minengefährdet
Etwa 6,5 Millionen Menschen sind von Mangelernährung und Ernährungsunsicherheit betroffen oder sind von extremem Verlust der Lebensgrundlagen bedroht. Weitere 4 Millionen Menschen laufen Gefahr, wegen der Erschöpfung der Agrarproduktion keine ausreichend verfügbaren Nahrungsmittel zu erhalten.
Weniger als die Hälfte der syrischen Gesundheitseinrichtungen sind voll funktionsfähig, und bis zum 7. November 2017 gibt es einen Anstieg von Seuchenausbrüchen, darunter 63 neue Polio-Fälle.
Mehr als eine von drei Schulen ist entweder beschädigt oder zerstört, andere werden als Sammelunterkünfte oder für andere Zwecke genutzt. Schätzungsweise 1,75 Millionen Kinder oder fast ein Drittel der Kinder im Schulalter (5-17 Jahre) aus dem Schuljahr 2015/16 haben keine Schule und weitere 1,35 Millionen sind gefährdet, auszusteigen.
Aufgrund der begrenzten Wassernetzversorgung müssen bis zu 35 Prozent der Bevölkerung auf alternative, oft unsichere Wasserquellen zurückgreifen, um ihren Wasserbedarf zu decken.
Ca. 4 Mio. hungernde Menschen in der Region und weitere ca. 5 Mio.Menschen innerhalb Syriens werden täglich vom World Food Program (WFP) versorgt, verbunden mit Hilfe durch UNHCR (Flüchtlingshilfswerk), UNICEF (Erziehung, Kinder, Wasser!) OCHA (humanitäre Koordination), ILO (Beschäftigung), UNDP (Entwicklung) , UN Women, begleitet auch von UNRWA (Palästina-Hilfe) und diversen internationalen und nationalen NGOs. Alle abhängig von externer Finanzierung, die beispielhaft (gemessen an weiteren Gebern) zu einem hohen Anteil von Deutschland kommt. Aber was sind Zuwendungen von ca. 500 € pro Flüchtling p.a. verglichen mit der Unterstützung (und verbundenen Kosten) in Höhe von ca. 15.000 – 30.000 (oder mehr?) in Deutschland (geschätzte Zahlen, Quelle FAZ 22.11.2017 S.9).
Internationale Konferenzen (London, Brüssel) erbringen zwar grosse Zusagen der Unterstützung, aber nicht alle Gelder fließen. Und die Auflagen der Geber sind so komplex, von politischen Vorstellungen ihrer Haushälter und einer kulturell fremden Welt geprägt, dass die Hilfsprogramme oft ungesteuert parallel erfolgen. Die Regierungen in der Region sind überfordert. Aber da fast unendlich viel zu tun ist, ist für alle Platz.
Und da Hunger auch als Waffe dient, Angst und Unsicherheit die Menschen umtreibt, wird die Vertreibung noch viele Jahre anhalten. Wie bei den Palästinensern, die seit Jahrzehnten u.a. bei Beirut in Lagern hausen, die zu Städten ohne Komfort werden, und nicht nach Palästina zurückkehren wollen oder dürfen.
Der Irrsinn liegt in der Annahme vieler Beteiligter (so auch großer internationaler Geber und ihrer prägenden heimischen Öffentlichkeit), mit Nothilfe auszukommen. Instrumente für eine aktuelle Krise einzusetzen, zum Überleben, jedoch ohne parallel nachhaltige Strukturen zu ermöglichen. Eine Hilfe, die kurzfristige Bilder in Medien bringt, Öffentlichkeit schafft, jedoch nicht nachhaltig wirkt. Dabei leben die Menschen nicht nur vom Brot allein. Oft ohne Zukunft und Ziel, isoliert, medial nur mit dem Smartphone mit der Welt verbunden. Sie brauchen Infrastruktur, Ausbildung, Arbeit, Gesundheit und eine Behausung, die mehr ist als eine Wellblechhütte mit 50 Grad im Sommer und Minus- graden im Winter.
Leistungen und Herausforderungen der Nachbarländer bei der Aufnahme von Flüchtlingen:
Libanon, Jordanien, Türkei, auch Ägypten, leisten in der Region wesentliches. Libanon hat – neben einem historisch hohen Anteil „geflohener“ Palästinenser bei ca. 5 Mio. Einwohnern ca. 1.2 Mio. Flüchtlinge aus Syrien (20% der Bevölkerung!) aktuell aufgenommen. Jordanien ca. 8%. Erleichtert dadurch, dass man mit Arabisch eine Sprache (Ausnahme Türkei) spricht. Programme aller Geber und der Vereinten Nationen heißen: No lost generation (Kindern eine Zukunft durch Ausbildung, angemessene Ernährung etc.) zu ermöglichen. Kinderarbeit, Frühverheiratung, mentale Schäden zu vermeiden. Jordanien öffnet seine Schulen am Nachmittag den geflüchteten Kindern. Deutschland investiert erheblich auch in Strukturen (Wasser, Energie, Jobs).
Schauen Sie im Internet – Stichwort „The Berm“, auf eine Fluchtsiedlung an der Grenze von Syrien-vor Jordanien. 60.000 Menschen auf Satellitenbildern zu erkennen. Grenze geschlossen, um das Einsickern von Daesh und weiteren Gefährdern nach Jordanien zu vermeiden. Nahrungshilfe, mit einem Baukran fast 5o m hoch, über die Grenze hinweg nach Syrien gehoben. Frauen, die 7 km zu Wasserstellen und Nahrungsverteilung laufen müssen (Männer sehen sich nicht zuständig dafür) und nachts dabei gefährdet sind, wenn sie voll beladen zurückkehren.
Frauen, die die Hauptlast und Verantwortung gerade für Kinder tragen, auch da sie oft allein zurück blieben.
Ein Ende ist nicht absehbar. In Jordanien lebten bereits viele Syrer, kommen Flüchtlinge in sogenannten „host communities“ unter. Nur ca. 15 % (Jordanien) leben in Lagern selbst, alle anderen oft in Konkurrenz zu lokalen Gemeinschaften (Wohnung, Jobs…) und brauchen letzte mitgebrachte Reserven (Verkauf von Land, Besitz) auf.
Hilfe zur Selbsthilfe? – “Arbeitskraft, Ausbildung, Disziplin und guter Wille der Geflüchteten bleiben ungenutzt.”
Schulen sind vormittags mit jordanischen, nachmittags mit Fluchtkindern belegt. Hospitäler überfordert. Die Arbeitskraft, Ausbildung, Disziplin und guter Wille der Geflüchteten bleiben ungenutzt. Zwar versprach die Staatengemeinschaft auf großen Konferenzen 1,1 Mio. neue Jobs zu schaffen ( EU voran, Deutschland auch stark engagiert), aber nur in der Türkei (ca. 2.5 Mio. Flüchtlinge) scheint sich für eine begrenzte Zahl eine Chance der längerfristigen Beschäftigung (auf niederem Niveau natürlich) zu ergeben. Welche Märkte sollen auch bedient werden? Für alle Entwurzelten in der Region fehlt die Perspektive. Trotz punktueller Förderung: Ein eigenständiger Lebensunterhalt, Beschäftigung in Landwirtschaft und Internet sind bescheidene Optionen, neben klassischen staatlichen Programmen in Umwelt (Aufforstung), Ausbildung (Lehrer) und Gesundheit. Aber wenige Ressourcen sind hierfür zur Förderung verfügbar. Die EU gibt Zollerleichterungen für regionale Wirtschaft bei begrenzter Wirkung.
Zudem leidet die Region unter extremer Dürre, nur Syrien könnte eine kräftige Landwirtschaft wieder aufbauen.
Somit: Wohin sollen Vertriebene in Syrien und Flüchtlinge in der Region gehen? Oder sich in ihr Schicksal weiter ergeben? Aber Rückkehr zu einem Diktator, der sich die ihm genehmen Landsleute aussuchen wird? Während politische Ursachen der Flucht weiter anhalten. In eine prekäre Zukunft, abhängig von einer fragilen Sicherheitslage und den Interessen einer Vielzahl politischer Akteure? Und wann: Nach einer Stabilisierung, die internationale Verständigung voraussetzt? Und die wer garantiert?
Inshallah. Die Geschichte ist nicht zu Ende. ….
Über den Autor: Stephan Klaus Ohme ist Jurist und war drei Jahrzehnte in der Entwicklungszusammenarbeit tätig, u.a. mit langjährigen Einsätzen in Nepal, Zimbabwe, Türkei, Südafrika. Zuletzt deutscher Verhandlungsführer für Finanzierung der nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen. Derzeit Senior Berater mit Sitz in Amman, Jordanien. Der Artikel gibt eine persönliche Einschätzung des Autors wider.
Weitere Informationen:
2012: Der erste gescheiterte Friedensversuch um Syrien
2015: Syrien, Erklärung der internationalen Unterstützergruppe
Sept.2015 – Jeffrey Sachs: Lösung des Syrien-Konflikts durch den Sicherheitsrat