Björn Tore Godal, geb. 1945, ist norwegischer Sozialdemokrat und hat u.a. als norwegischer Minister für Außenhandel (1991-1994), Außenminister (1994-1997), Verteidigungsminister (2000/2001), norwegischer Botschafter in Deutschland (2003-2007) und Vorsitzender der norwegischen Kommission über Afghanistan 2001-2014 wesentlich zur Gestaltung norwegischen Friedens- und Sicherheitspolitik beigetragen.
In dem kürzlich erschienenen – von Peter Brandt, Hans-Joachim Gießmann und Götz Neuneck herausgegebenen – Buch zum 100. Geburtstag von Egon Bahr «…aber eine Chance haben wir» berichtet Bjørn Tore Godal über seine Erfahrungen mit Egon Bahr als „Architekt und Bauarbeiter der Entspannungspolitik“. Wir danken Björn Tore Godal für sein OK zur Veröffentlichung in unserer Website:
Nicht lange nach meiner Ankunft als neuer norwegischer Botschafter in Berlin 2003 schenkte mir Egon Bahr sein neues Buch: »Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal«. Der letzte Satz des Buches lautet: »Die europäische Zukunft ist wichtiger als die deutsche Vergangenheit«.
Etwa fünfzig Jahre früher, als Kind in Telemark, begegnete ich lebhaften Schatten dieser »Vergangenheit«, obwohl die deutschen Soldaten längst nach Hause zurückgekehrt waren. Ein alter Panzerwagen mit demontiertem Maschinengewehr auf einer Wiese in der Nachbarschaft war unser aufregendstes Spielzeug. Mein Onkel und meine Tante wohnten wie Tausende andere nach dem Krieg in einer deutschen Kaserne und warteten auf ein besseres Zuhause. Einige Zeit später nahmen meine Eltern – wie andere Familien in der Nachbarschaft auch – unterernährte und kranke deutsche Kinder aus Flüchtlingslagern im kriegszerstörten Deutschland auf. Ich erinnere mich, wie mein Vater, der in der Widerstandsbewegung aktiv gewesen war, sagte: »Die Kinder haben keine Schuld. Wir müssen denen einfach helfen«.
Im Radio hörten wir gelegentlich Willy Brandts klare eindringliche Stimme in perfektem Norwegisch. Er sprach von den großen Herausforderungen beim Wiederaufbau Deutschlands und des neuen Europas. Rut Brandt organisierte eine humanitäre Luftbrücke für Kinder und Jugendliche zwischen Berlin und Norwegen.
Meine Begegnungen mit dem vitalen Egon Bahr in Berlin, der damals im Grunewald, nicht weit von der norwegischen Residenz, wohnte, zwischen 2003 und 2007 waren Höhepunkte meines Lebens. Im Gespräch mit ihm fühlte ich mich seltsamerweise so, als würde ich nach Hause zurückkehren, aber mit einem besseren Verständnis und einer besseren Einsicht in die Ereignisse, als ich sie in meiner Jugend hatte. Jedes Gespräch brachte Neues und war ein großer Gewinn. Bahr dachte in historischen Kategorien und hatte die Fähigkeit, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verbinden.
Der politische Mensch Egon Bahr war wie viele andere von den großen Traumata geprägt, die Deutschland im letzten Jahrhundert heimgesucht hatten. Mit seinem scharfen Blick auf Geschichte und Gegenwart und seinem politische Lösungen suchenden Geist verfügte er jedoch über Voraussetzungen, Architekt und Bauarbeiter des Wiederaufbaus und der Vereinigung Deutschlands zu werden. Und mehr als das: Seine Gedanken über Europa, die Vereinigten Staaten und die neue Weltordnung prägen noch immer einige der großen Debatten unserer Zeit.
Die enge Zusammenarbeit zwischen Egon Bahr und Willy Brandt ist die Grundlage für das Verständnis der Nachkriegszeit und eines erneuerten und selbstbewussteren Deutschlands. Ihre gemeinsame Strategie beruhte – im Unterschied zu den mentalen und physischen Mauern des Kalten Krieges – auf Offenheit und Dialog. Eine gehörige Portion Kompromissbereitschaft und Einfühlungsvermögen hatten sie auch bei den anfänglich orthodoxen Totalitären im Osten in Gang gesetzt. Unter den Reformern wurde Gorbatschow zum Katalysator für den notwendigen Wandel und de facto zu einem verbündeten Mitspieler. Der Fall der Mauer und die deutsche Wiedervereinigung kamen trotz vieler Belastungen schneller voran, als selbst die Optimisten hoffen konnten.
Trolle platzen bekanntlich im Tageslicht, wie es auf gleiche Weise die von den Sowjets eingeführten und konservierten Gesellschaftssysteme in Mittel- und Osteuropa taten – trotz der dramatischen Veränderung mit Einsatz von Gewalt und Todesopfern.
Im Westen war es alles andere als einfach, Unterstützung für die von Egon Bahr betriebene Neue Ostpolitik zu bekommen. Auf einem Seminar in den nordischen Botschaften in Berlin während meiner Zeit als Botschafter gab Henry Kissinger einen aufschlussreichen Bericht darüber, wie schwierig es gewesen war, die Unterstützung Präsident Nixons zu bekommen. Auch andere westliche Führer waren nicht zuletzt gegenüber der Perspektive einer deutschen Wiedervereinigung skeptisch.
Die enorme und mühsame Arbeit des Aufbaus eines neuen Deutschlands war nur durch großen menschlichen Einsatz möglich. Die ökonomischen Ergebnisse sind beeindruckend. Obwohl noch viel zu tun bleibt, gibt es keine Alternative zu einer weiteren Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West. Die politischen Anstrengungen um Arbeitsplätze und bessere Lebensbedingungen für alle sind eng mit der Entwicklung einer starken wirtschaftlichen Position Deutschlands in Europa verbunden. Sowohl Willy Brandt und Helmut Schmidt als auch Helmut Kohl, sowohl Gerhard Schröder als auch Angela Merkel haben Deutschlands führende Position in der EU ausgebaut.
Politisches Handeln sollte zum Zusammenwachsen beitragen: Gemeinsame Probleme sollten über Landesgrenzen hinweg gemeinsam gelöst werden und sich nicht auf Eigeninteressen und kurzsichtige nationale Entscheidungen beschränken. Ohne die kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Frankreich und anderen kleineren oder größeren EU-Staaten wird sich die EU nicht bewegen. Deutschland ist sich dieser Verantwortung sehr bewusst.
Ich selbst erfuhr als Handels- und Außenminister in den 1990er- Jahren vielfache deutsche Unterstützung für den Abschluss des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und die Vorbereitungen für einen norwegischen EU-Beitritt. Ein starkes Europa ohne die nordischen Länder schien in Deutschland undenkbar. Wir wurden als enge Freunde und Verbündete angesehen, nicht zuletzt bei der Arbeit für eine verstärkte regionale Zusammenarbeit im Norden und eine Politik der Verständigung mit Russland.
Umso größer war die Enttäuschung über das norwegische Nein von 1994 sowohl bei den deutschen Sozialund Christdemokraten als auch bei den Liberalen. Mein Außenministerkollege Klaus Kinkel hatte es bei unserem Treffen im Auswärtigen Amt in Bonn nach der Volksabstimmung so formuliert: »Was ist denn los mit Euch? Mittlerweile kenne ich jeden norwegischen Fisch beim Vornamen, und da sagt ihr Nein!«
Wir erholten uns einigermaßen schnell von dieser Enttäuschung, und ich konnte Bahr berichten, dass wir zehn Jahre nach dem norwegischen Nein in Berlin weiterhin offene Türen fanden, um möglichst gute Lösungen für Norwegen auszuarbeiten. Zehn von neunzehn norwegischen Ministern besuchten Deutschland während meines ersten Jahres als Botschafter in Berlin. Wichtige Vorgänge in der EU und im EWR standen regelmäßig auf der Tagesordnung. Egon Bahr freute sich darüber, aber es überraschte ihn nicht. In anderen Hauptstädten der EU war das nicht ganz so einfach.
Es gibt einen großen Kontrast zwischen der gegenwärtigen politischen Situation und dem Deutschlandbild, das mir ein älterer Genosse der norwegischen Arbeiderpartiet Anfang der 1960er-Jahre bei meinem ersten außenpolitischen Seminar der Jugendorganisation der Partei vermittelte: »Die Nato will die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten halten.«2 Ich gebe zu, er hatte das zwar mit einem Augenzwinkern gesagt, aber es spiegelte damals die Realität wider. Den Deutschen war nicht unbedingt zu vertrauen. Es ist unbestritten, dass das Deutschlandbild des Auslands lange Zeit auch das Denken der Deutschen über sich selbst und ihren Platz in der Welt prägte.
Die schmerzlichen Erfahrungen der ersten Nachkriegsjahre, verbunden mit einer tief sitzenden nationalen Scham, wurden nach und nach durch Vertrauen in die eigenen Stärken und Fähigkeiten ersetzt. Gleichzeitig ist Deutschland besser als andere gegen egozentrischen nationalen Größenwahn gewappnet.
Das Bild der Welt von Deutschland und den Deutschen hat sich radikal verändert. Meinungsumfragen zeigen, dass Deutschland und die Deutschen in vielen Ländern, darunter auch China und Russland, sehr hoch angesehen sind. Der Respekt vor Deutschlands neuer Rolle als Land ohne klassische Großmachtambitionen ist weiter gewachsen. Um es mit den Worten von Egon Bahr zu beschreiben: Deutschland ist nicht nur ein normaler und selbstverständlicher Teilnehmer der europäischen und internationalen Politik geworden, sondern im besten Fall auch eine treibende Kraft.
Mindestens drei Besonderheiten verschaffen Deutschland politische Wettbewerbsvorteile: Erstens fördert die föderale Machtstruktur mit starken Bundesländern eine gesunde und nüchterne Einstellung sowohl zu den Aufgaben der Bundesregierung als auch zu dem, was Deutschland in Europa repräsentiert.
Zweitens hat Deutschland als vielleicht einziges Land der Welt in seiner Verfassung festgehalten, dass Angriffskriege oder die Planung und Unterstützung solcher Kriege verfassungswidrig sind. Nur der UN-Sicherheitsrat kann den Einsatz militärischer Gewalt international legitimieren.
Drittens bietet Deutschland durch seine geografische Lage zwischen Ost-, Nord-, Süd- und Westeuropa besondere Voraussetzungen für eine stabilisierende und brückenbildende Rolle.
Was viele zeitweise als schwache und unklare außen- und sicherheitspolitische Rolle Deutschlands wahrgenommen haben, kann in einer Welt, in der selbst die stärkste Militärmacht der Welt, die USA, als militanter Exporteur von Demokratie und Menschenrechten an ihre Grenzen stößt, als politische Option genutzt und weiterentwickelt werden. Die Rhetorik von Präsident Biden wird womöglich neue Zeiten einläuten. Was Egon Bahr als historisch bedingte Unterschiede zwischen amerikanischer und europäischer Außenpolitik ansah, könnte an Bedeutung verlieren.
Egon Bahrs Ambitionen für ein starkes und friedliches Europa mit umfangreichen internationalen Verpflichtungen auf Grundlage der Vereinten Nationen sind ohnehin Richtlinie für sehr viele Länder in unserem Teil der Welt. Es gibt keine Garantie gegen neue große zwischenstaatliche Konflikte. Da hat das Erbe der Entspannungspolitik, – Dialog und Inklusion statt Eskalation und Konflikt – eine richtungweisende Grundlage geschaffen. . Ihr systematischer und analytischer Denkenansatz ist vorbildlich. Es gibt kein besseres Vermächtnis als das Erbe dieses gesellschaftspolitisch engagierten Menschen.
Es ist ein Privileg, Egon Bahr kennengelernt zu haben.
aus: Peter Brandt / Hans-Joachim Gießmann / Götz Neuneck (Hg.) »… aber eine Chance haben wir« / Zum 100. Geburtstag von Egon Bahr (Dietz-Verlag, Oktober 2022).