In einem Beitrag für The Nation schreibt Archie Brown, Autor des Buches “The Human Factor: Gorbachev, Reagan, and Thatcher, and the End of the Cold War” (Oxford University Press, 2020) über die historischen Verdienste Michail Gorbatschows:
Zukünftige Generationen von Russen werden das hohe Ausmaß seiner Leistungen anerkennen und den Mann ehren, der mit einer autoritären und totalitären Vergangenheit Schluss gemacht hat.
Kein Einzelner hat die Weltgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so tiefgreifend beeinflusst wie Michail Gorbatschow, der letzte Generalsekretär der Sowjetunion. Die Feier seines 90. Geburtstages am 2. März ist eine Zeit, um über den Unterschied zwischen ihm und anderen nachzudenken und Missverständnisse auszuräumen.
1985 war die Sowjetunion eine militärische Supermacht, die die Vereinigten Staaten und Westeuropa ebenso wie die NATO die UdSSR verwüsten konnte. Kein Druck von außen hätte eine sowjetische Führung dazu zwingen können, konkrete Schritte zu unternehmen, um den Kalten Krieg zu beenden, die obligatorische marxistisch-leninistische offizielle Doktrin durch freie intellektuelle Auseinandersetzung zu ersetzen und das politische System zu transformieren. Die populäre Vorstellung, dass es die (real reichlich vorhandenen) Mängel der sowjetischen Wirtschaft waren, die radikale Veränderungen auslösten, wird durch die höchste Priorität widerlegt, die Gorbatschow den politischen vor den wirtschaftlichen Reformen einräumte.
Viele hochrangige Mitglieder der Reagan-Administration – obwohl nicht sein Außenminister George Shultz – waren überzeugt, dass Gorbatschow sich einfach dem Unvermeidlichen beugte und das tat, was jeder sowjetische Führer tun musste, wenn er mit der amerikanischen Aufrüstung und der ideologischen Offensive konfrontiert war. US-Verteidigungsminister Caspar Weinberger war einer der Prominenten, die auch im Nachhinein Gorbatschows Beitrag und seine Bedeutung nicht verstanden haben. Nach Meinung von Weinberger hätte Gorbatschow erkannt, dass die Sowjetunion „keinen Krieg gewinnen konnte“, und daher seine Rhetorik, aber nicht seine Philosophie geändert: „Er sprach viel über Perestroika, Glasnost, all diese Dinge, aber er nie wirklich geändert hatte.”
Das war eine völlig falsche Einschätzung. Glücklicherweise hatte Reagan Vertrauen in seine eigenen Eindrücke, die er von Gorbatschow gewonnen hatte, und befolgte das Urteil von Shultz über die Notwendigkeit eines konstruktiven Dialogs mit der Sowjetunion anstatt Weinbergers tiefem Verdacht gegen solche Kontakte zu folgen. Die Führung der CIA war nicht weniger plump in ihrer Einschätzung als die des Pentagon.
Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein als die Behauptung, dass sich Gorbatschow nicht geändert hätte. Seine politischen Ansichten erfuhren eine bemerkenswerte Entwicklung. Als plolitische Führungspersönlichkeit war er ungewöhnlich offen, geschweige denn als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Er begann 1985 als kommunistischer Reformer und hatte sich vor Ende des Jahrzehnts zu einem sozialdemokratischen Sozialisten entwickelt – auf derselben Wellenlänge wie seine bevorzugten ausländischen Gesprächspartner aus dem Westen, der spanische Premierminister Felipe González und der Präsident der Sozialistischen Internationale und ehemalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt.
Die Vernichtungskraft, die dem amerikanischen Präsidenten und dem sowjetischen Generalsekretär zur Verfügung stand, gab den Beziehungen zwischen ihnen eine einzigartige Bedeutung. Reagan war auf Empfehlung von Shultz und „einer ausländischen Führerin“, wie er seine „Seelenverwandte“ Margaret Thatcher nannte, bereit, sich mit Gorbatschow zu treffen.
Gorbatschows und Reagans Meinungsverschiedenheiten waren groß, aber sie teilten das Ziel, die Atomwaffen vollständig abzuschaffen und zu verbieten, eine Politik, die das Washingtoner Außen- und Verteidigungsestablishment mehr störte als ihre Moskauer Kollegen, denn die sowjetische Seite behielt einen Vorteil bei den konventionellen Streitkräften.
Dieses Ziel entsetzte auch die britischen Premierministerin. Thatcher war der Meinung, dass das einzig Gute am Reykjavik-Gipfel von 1986, bei dem die beiden Staats- und Regierungschefs kurz davor standen, die Atomwaffen zu verbannen, darin bestand, dass dieses Ziel letztendlich auf dem Gipfel von Reagans obsessiver Leidenschaft für die Entwicklung eines Raketenabwehrsystems zerschellte, der sogenannten „strategischen Verteidigung“, oder SDI. Aber amerikanische Triumphberichte, denen zufolge Reagan und sogar SDI ausdrücklich der Grund dafür sind, dass die sowjetische Führung keine Alternative zu einer auf Kompromissen beruhenden Friedenspolitik hat, sind weit von der Wirklichkeit entfernt. (….)
Quelle: Auszug aus 2021-03-02. – (The Nation, Archie Brown) – Happy 90th Birthday, Mr. Gorbachev: Future generations of Russians will surely recognize the magnitude of his achievements and honor the man who broke with an authoritarian and totalitarian past., (deutsche Version in Absprache mit The Nation, übersetzt von W.Biermann)
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