Europa droht hochgefährlicher atomarer Rüstungswettlauf —
Zur Rettung des INF-Vertrages muss Friedensbewegung Forderung an Washington und an Moskau erheben
Nach dem Austritt der Trump- und der Putin-Administrationen aus dem Mittelstreckenabkommen droht ein atomarer Aufrüstungswettlauf in Europa. Er könnte noch gefährlicher werden als der in den 70er und 80er Jahren. Entsprechende Ankündigungen, Drohungen und Forderungen sind bereits aus Washington, Moskau sowie in Deutschland und anderen europäischen NATO-Staaten zu hören.
Anfang der 80er Jahre demonstrierten in der bis dato größten Friedensbewegung seit dem 2. Weltkrieg Millionen von Menschen in Westeuropa, in der Schweiz, den USA und schließlich in der DDR und anderen osteuropäischen Ländern gegen „Geist, Logik und Politik der atomaren Aufrüstung und Abschreckung“ und blockierten die Stationierungsorte für atomare Raketen. Diese Friedensbewegung trug wesentlich dazu bei, dass Ronald Reagan und Michail Gorbatschow am 7. Dezember 1987 das Abkommen über das Verbot atomarer Kurz- und Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper unterzeichneten. Washington und Moskau bauten daraufhin ihr gesamtes Arsenal von insgesamt rund 2.700 Atomwaffen dieser Kategorien ab.
Noch bleibt Zeit zur Rettung des INF-Vertrages
In Kraft treten die Austrittsankündigungen der USA und Russlands erst am 2. August 2019. Bis dahin sind noch sechs Monate Zeit, diesen hochgefährlichen Rückschritt in eine Zukunft mit wieder erhöhter Atomkriegsgefahr zu verhindern. Das kann nur gelingen, wenn die Friedensbewegung auf beide Seiten politischen Druck macht – sowohl auf die USA und die europäischen NATO-Verbündeten wie auf Russland. Das Wichtigste ist die Forderung nach einer möglichst baldigen umfassenden, seriösen Überprüfung der gegenseitigen Vorwürfe. Diese sind die auf beiden Seiten bislang weder überzeugend belegt noch widerlegt.
Die umfassenden Inspektionen aufgrund des INF-Abkommens müssen wieder in Kraft gesetzt werden. Am 31. Mai 1991 wurde der Abbau aller unter das Abkommen fallenden Atomwaffen abgeschlossen. In den darauf folgenden zehn Jahren diente es der Sicherheit und dem Vertrauen beider Seiten, dass die jeweils andere Seite keine neuen Typen der verbotenen Atomwaffen entwickelt. Erst 2014 erhoben die USA – noch unter Präsident Barack Obama – erstmals informell den Vorwurf, Russland verstoße mit der Entwicklung einer neuen Mittelstreckenrakete gegen das Abkommen. Die Regierung Putin erhob denselben Vorwurf gegen die inzwischen mit Unterstützung der NATO vollzogene Stationierung von „Raketenabwehrsystemen“ der USA in Rumänien und Polen.
Blinde Vasallentreue der europäischen NATO-Regierungen
Die Regierungen der europäischen NATO-Verbündeten haben die Vorwürfe der USA an die Adresse Moskaus ohne ausreichende Prüfung übernommen. Anfang Dezember 2018 stellten sie sich hinter das 60-Tage-Ultimatum, mit dem US-Außenminister Mike Pompeo die Regierung Putin damals aufforderte, die behaupteten Vertragsverstöße zu korrigieren. Mit einer vorschnellen, vasallentreuen Solidaritätsadresse haben die europäischen Regierungen ihre Einflussmöglichkeiten sowohl in Washington wie in Moskau zunächst einmal sehr geschwächt. Angesichts dieser Solidarität sind die Beteuerungen des deutschen Außenministers Heiko Maaß und anderer Mitglieder europäischer NATO-Regierungen, sie seien „gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen“ in ihren Ländern, wenig glaubwürdig.
Wie in den 80er Jahren kritisieren PolitikerInnen von CDU/CSU in Deutschland sowie von konservativen Partein in anderen Ländern derartige Beteuerungen „als grundfalsch“ und als „Verrat an der Bündnistreue in der NATO“. Sie fordern „alle Optionen, inklusive der Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Europa“ müssten jetzt auf den Tisch. Nur auf diese Weise sei Russland zu „Konzessionen“, zu “Verhandlungsbereitschaft“ und zur „Korrektur der Verstöße gegen den INF-Vertrag“ zu bewegen.
Der deutsche grüne Außenpolitiker und ehemalige Umweltminister Jürgen Trittin ist bislang einer der wenigen, der auch die Vorwürfe Russlands an USA und NATO berücksichtigt und forderte „eine Abrüstungsinitiative, um den Verzicht auf atomare Mittelstreckenraketen in Europa zu sichern” und regte eine neue Variante des Doppelbeschlusses von 1979 an. Die Nato solle Russland anbieten, auf die US-Raketenabwehrsysteme in Europa zu verzichten und die taktischen Atomwaffen der USA aus Deutschland und anderen europäischen Staaten abzuziehen. Im Gegenzug müsse Russland ebenfalls bei den bereits in Kaliningrad stationierten Iskander-Raketen sowie bei Marschflugkörpern abrüsten.
Hochgefährliche Atomwaffen in der Pipeline für ein neues Wettrüsten
In den 70er Jahren erregten im Westen die sowjetischen Mittelstreckenraketen SS-20 besondere Sorge, weil sie in großer Zahl westlich des Ural stationiert waren und westeuropäische NATO-Staaten erreichen konnten. Die bereits lange vorher entwickelte Pershing 2 der USA hätte acht Minuten nach Abschuss von ihren drei Stationierungsorten in Baden-Württemberg Ziele bei Moskau zerstören können. Mit einer ausreichenden Zahl von Pershing 2 hätten die USA einen Enthauptungsschlaggegen sowjetische Raketenstellungen führen können, was zu einem auf Europa begrenzten Atomkrieg führen konnte.
Der US-Kongress bewilligte Trump für das Haushaltsjahr 2018 die ersten 500 Millionen Dollar zur Entwicklung einer neuen landgestützten Mittelstreckenrakete, die die Fähigkeiten der Pershing 2 deutlich übertreffen soll. Denselben „Fortschritt“ bringen die bereits in der Produktion befindlichen Nachfolgemodelle für die atomaren Fallbomben vom Typ B61-12, die die USA ab 2020 auf ihren Militärbasen im deutschen Büchel in der Eifel sowie in den Niederlanden und Belgien stationieren wollen. Diese „Modernisierungsmaßnahme“ wird von allen NATO-Bündnispartnern der USA unterstützt.
Hinzu kommen neue Atomwaffen mit niedrigerer Sprengkraft – sogenannte „Mininukes“ -, deren Stationierung in Europa US-Präsident Donald Trump bereits Anfang 2018 angekündigt hat, angeblich um eine derzeit angeblich bestehende „Abschreckungslücke“ gegenüber Russland zu schließen. Moskau müsse überzeugt werden, dass die USA selbst bei einem rein konventionellen Angriff Russlands in der Lage seien, atomar zu reagieren.
Wladimir Putin und sein Verteidigungsminister Sergey Schoigu kündigten Anfang Februar die Entwicklung und Stationierung neuer landgestützter Mittelstreckenraketenbis Ende 2021 an sowie von Abschussgeräten für Kalibr-Raketen, die bislang auf Schiffen stationiert sind und daher nicht unter das Verbot des INF-Vertrages fielen. Außerdem betreibt Russland laut Putin die Entwicklung von Hyperschallraketen mit größerer Reichweite, die mit mindestens fünffacher Schallgeschwindigkeit auf ihr Ziel zusteuern.
Das endgütige Ende des INF-Vertrages würde aber nicht nur zu einem neuen gefährlichen atomaren Rüstungswettlauf der USA und Russlands in Europa führen, sondern auch global. Die Chancen, dass sich Washington und Moskau dann noch auf ein Nachfolgeabkommen für den 2021 auslaufende START-Vertrag mit zahlenmäßigen Obergrenzen für strategische Atomsprengköpfe und ihre Trägersysteme (Interkontinentalraketen, U-Boote, Langstreckenbomber) einigen könnten, werden von Rüstungskontrollexperten als minimal beurteilt. Bislang haben Washington und Moskau noch nicht einmal Verhandlungen über ein START-Nachfolgeabkommen aufgenommen. Im schlimmsten Fall käme es auch zu einer Aufkündigung des atomaren Teststoppabkommens. Sollten die USA und Russland entgegen ihren Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen (NPT) wieder atomar aufrüsten, werden auch weitere Staaten Atomwaffen anstreben.
Quelle: (für die Redaktion von Frieder Schöbel überarbeitet): DFG-VK, Andreas Zumach aus Genf, 11.02.2019: Europa droht hochgefährlicher atomarer Rüstungswettlauf
Weitere Info:
2019-02-21. – (ARD, Monitor) – Hochrüsten um jeden Preis: Die neuen nuklearen Pläne der USA