“Wie die Krim zum Frankenstein-Monster geworden ist”, ist eine besorgte Kernfrage von Anatol Lieven nach seiner letzten dreiwöchigen Forschungsreise in der Ukraine. Am 11. April 2023 veröffentlichte er einen Bericht über Gespräche mit ukrainischen Gesprächspartnern in der U.S. Zeitschrift Foreign Policy unter dem Titel Crimea Has Become a Frankenstein’s Monster. Wir danken Anatol für seine Zustimmung zur Veröffentlichung der von uns ins Deutsche übertragenen Ausgabe seines Berichtes und einiger Referenzen auf unserer INEP-Website.
Innerhalb der ukrainischen Regierung zeichnen sich deutliche Meinungsverschiedenheiten darüber ab, ob die Ukraine die Rückeroberung der Krim zu einem unverhandelbaren Kriegsziel zu machen oder bereit sein sollte, die zumindest zeitweise russische Kontrolle über die Halbinsel gegen russische Zugeständnisse in anderen Bereichen einzutauschen.
Die Frage könnte auch zu einer tiefen Spaltung beitragen zwischen Kiew und denjenigen westlichen Regierungen, die befürchten, dass der Kampf um die Krim und die Kontrolle über den strategisch wichtigen Militärstützpunkt Sewastopol der Punkt sein könnten, an dem Moskau bereit wäre, zu einem Atomkrieg zu eskalieren.
Diese Frage wird immer dringlicher, je mehr sich die Ukraine auf eine Offensive vorbereitet, um möglichst die Landverbindung zwischen Russland und der Krim zu kappen.
Meine eigenen Nachforschungen in der Ukraine während der vergangenen Monate haben ergeben, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskij große Schwierigkeiten hätte, einen Waffenstillstand zu unterstützen, der die Krim in russischer Hand belässt. Dies würde nicht nur auf den heftigen Widerstand der Hardliner-Nationalisten und des ukrainischen Militärs stoßen, sondern auch aus der ukrainischen Regierung, die selbst zum Schüren der Stimmung in der Öffentlichkeit beitrug, die Krim müsse um jeden Preis zurückerobert werden.
In Abweichung von der bisherigen Regierungslinie erklärte Andriy Sybiha, stellvertretender Leiter des Präsidentenstabs und erfahrener ukrainischer Diplomat, letzte Woche gegenüber der Financial Times: “Wenn es uns gelingt, unsere strategischen Ziele auf dem Schlachtfeld zu erreichen, und wenn wir uns an der administrativen Grenze der Krim befinden, sind wir bereit, eine diplomatische Seite zu eröffnen, um diese Frage zu erörtern … [obwohl] dies nicht bedeutet, dass wir den Weg der Befreiung [der Krim] durch unsere Armee ausschließen.“
Eine ganz andere Linie als Sybiha vertrat ein weiterer Berater Zelenskis, der ehemalige Journalist und nationalistische Politiker Mykhailo Podolyak in einem kürzlich von Radio Liberty ausgestrahlten Interview , in dem er jeden Kompromiss mit Russland ausschloss:
“Könnte es Gespräche über einen diplomatischen Weg aus der Krim geben? – Ja, natürlich, wenn [Moskau] heute mit dem Abzug der Truppen beginnt, dann können wir einen, zwei oder drei Tage warten, bis diese Truppen zusammen mit den [russischen] Einwohnern abziehen.”
Podoljak ergänzte, dass nach dem Abzug Russlands vom gesamten ukrainischen Territorium über “russische Entschädigungen für die Ukraine und die Bestrafung von Kriegsverbrechen verhandelt werden sollte, zusammen mit der Schaffung einer 100 Kilometer langen entmilitarisierten Zone auf der russischen Seite der Grenze”.
Er sprach auch eine ganz andere Frage an, die für die Rückgewinnung der seit 2014 von Russland kontrollierten Gebiete durch die Ukraine von entscheidender Bedeutung sei: das Schicksal der dort lebenden Bevölkerung, die sich zum großen Teil historisch mit Russland identifiziert hat. Er bezeichnete die pro-russischen Krim-Bewohner als Mankurten (in etwa: “hirntote Sklaven”) und sagte:
“Wir müssen dort alles, was mit dem russischen Kulturraum zu tun hat, vollständig schließen. Wir müssen alles Russische ausrotten. Es sollte nur einen ukrainischen Kulturraum oder einen globalen Kulturraum geben. Wir sollten keinen Dialog darüber führen, ob eine Person das Recht hat, die russische Sprache zu benutzen oder nicht.“… Keinesfalls darf es diese Linie geben: ‘Vielleicht sind das unsere Leute, mit denen wir nur ein bisschen reden müssten. ..”:
“Ich war immer wieder überrascht von diesem Konzept der Reintegration in den Jahren 2014-2015 und [dem Argument, dass] wir die besetzten Gebiete mit einem Lächeln reintegrieren sollten. ‚Dort leben zwar Gangster, Kriminelle, Besatzungsarmeen und -verwaltungen, aber lasst sie uns mit einem Lächeln reintegrieren.’ … Sie sollten ausgewiesen werden, und einige sollten inhaftiert werden.”
Diese Haltung (die viele in der Welt wahrscheinlich als ethnische Säuberung ansehen) wurde von den meisten Ukrainern, mit denen ich im letzten Monat während meines dreiwöchigen Aufenthalts im Land sprach, nicht geteilt. Eine klare Mehrheit war zwar der Meinung, dass die Krim an die Ukraine zurückgegeben werden sollte – aber mit einigen (in der Regel nicht näher bezeichneten) Maßnahmen zur friedlichen Wiedereingliederung der Bevölkerung.
Und eine beträchtliche Minderheit sagte, die Ukraine sollte bereit sein, im Gegenzug für Frieden und die Rückgabe des seit Februar letzten Jahres von Russland eroberten Gebiets die Krim aufzugeben. Aber sie gaben im wesentlichen drei unterschiedliche Begründungen,
1. dass ‘dieser Krieg sonst ewig weitergehen wird‘,
2. dass die Krim — die 1954 per sowjetischem Dekret des KPdSU-Generalsekretärs Chruschtschow (selbst Ukrainer) von der russischen an die ukrainische Sowjetrepubliken übertragen wurde — ‘nie wirklich Teil der Ukraine war‘ und
3. dass ‘die prorussische Bevölkerung der Krim ein ständiges internes Problem für die Ukraine‘ sein werde.
Laut einer im vergangenen Juli durchgeführten Meinungsumfrage sprachen sich 58 Prozent der befragten Ukrainer für eine Rückkehr der Krim in die Ukraine aus – eine klare Mehrheit, wenn auch keine überwältigende.Es gab einen auffälligen Unterschied zwischen den Vertretern der beiden Positionen zur Krim und einem Verhandlungsfrieden mit Russland: Diejenigen, die mir gegenüber erklärten, die Rückkehr der Krim zur Ukraine sei unabdingbar und nicht verhandelbar, sagten dies zumeist auch offiziell. Keiner der Befürworter eines Kompromisses war bereit, dies offiziell zu tun.
Ein ehemaliger Dissident aus der Sowjetzeit (und führender Unterstützer der Orangenen Revolution 2004) erklärte mir:
“Sicherlich glauben viele Menschen, dass wir ohne Rücksicht auf Verluste bis zum Ende weiterkämpfen müssen, um die Krim zurückzuerobern, aber im Grunde wissen die meisten vernünftigen Menschen, dass das nicht möglich ist.
Wie in den letzten Kriegen wird diese öffentliche Atmosphäre durch die staatliche Kontrolle des Fernsehens noch verstärkt, die seit der Unterdrückung angeblich prorussischer Sender in Bezug auf Nachrichten und Analysen fast absolut geworden ist. Die Stimmen im Fernsehen unterstützen nun mit überwältigender Mehrheit die Linie der Regierung (oder vielleicht der Vorgängerregierung), dass die Rückgabe der Krim und des östlichen Donbass nicht verhandelbar ist. Unterstützt wird dies durch den Druck auf die Printmedien. Ein Journalist in der Stadt Dnipro sagte mir: “Das größte Problem ist die Atmosphäre der Zensur. Niemand gibt einen direkten Befehl, aber jeder weiß, dass er, wenn er bestimmte Dinge schreibt, Probleme mit seinen Arbeitgebern und den Sicherheitsdiensten bekommen wird. Daher findet die Diskussion nur noch innerhalb sehr enger Grenzen statt.“
Das Problem ist, dass es fast unmöglich geworden ist, dies in der Öffentlichkeit zu sagen, ohne seinen Arbeitsplatz zu verlieren oder vielleicht noch Schlimmeres. Sie wissen, dass die Menschen in der Sowjetunion Angst hatten zu sagen, was sie denken. Nun, ich muss sagen, dass heute in der Ukraine eine ähnliche Situation herrscht. Das liegt an der Wut und dem Hass in der Bevölkerung, die durch die russische Invasion entstanden sind, aber auch an der Unterdrückung durch den Staat. Jeder, der für einen Kompromiss mit Russland eintritt, wird sofort öffentlich als Verräter gebrandmarkt und vom SBU [dem ukrainischen Sicherheitsdienst] ins Visier genommen, ganz gleich, ob er schon immer für die Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine eingetreten ist.
Wie der ukrainische Analyst Volodymyr Ishchenko feststellte, sei das Ergebnis eine “‘Schweigespirale’ , in der Ansichten, die viele privat vertreten, in der Öffentlichkeit völlig fehlen.”
Unabhängig davon, ob die geplante ukrainische Offensive erfolgreich ist und die ukrainischen Streitkräfte an die Grenze der Krim bringt oder ob sie scheitert und zu einem anhaltenden Patt führt, wird die Ukraine wahrscheinlich zunehmend mit Forderungen westlicher Regierungen konfrontiert werden, eine Art vorübergehenden territorialen Kompromiss mit Russland anzustreben, verbunden mit der Drohung, die westliche Hilfe zu kürzen – und Sybishas Erklärung deutet darauf hin, dass einige ukrainische Beamte dies zumindest sehr gut verstehen.
Doch wie in so vielen Kriegen hat die staatliche Propaganda mit dem Ziel, die Bevölkerung zum Kampf zu motivieren, dazu beigetragen, in der Ukraine in Bezug auf einen Kompromiss mit Russland ein “Frankensteins Monster” in der öffentlichen Stimmung zu schaffen, die sie aber nun kaum noch kontrollieren kann.
Oleksiy Danilov, der Sekretär des ukrainischen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, erklärte: “Wenn Präsident Wolodymyr Zelenskij Friedensgespräche zwischen Kiew und Moskau vorschlägt, begeht er politischen Selbstmord” – was zweifellos der Grund dafür ist, dass Zelenskij selbst noch nichts zu den Äußerungen von Sybiha gesagt hat.
Alle ukrainischen Analysten, mit denen ich sprach, waren sich einig, dass nur starker öffentlicher Druck aus Washington Zelensky dazu bringen könnte, einem territorialen Kompromiss zuzustimmen – auch wenn sich Zelensky dann selbst gezwungen sähe, auf diesen Druck öffentlich mit bitterem Protest zu reagieren.
Quellenhinweise:
2023-04-13.– (Foreign Affairs) — Richard Haass und Charles Kupch: Der Westen braucht eine neue Strategie in der Ukraine –
Ein Plan für den Weg vom Schlachtfeld zum Verhandlungstisch
https://www.foreignaffairs.com/ukraine/russia-richard-haass-west-battlefield-negotiations
2023-04-18.– (Politico) — Jamie Dettmer: Die Ukraine könnte vor einem neuen Maidan stehen –
Nach dem Krieg werden die Erwartungen hoch sein, aber es wird eine gefährliche und schwierige Herausforderung für die Ukraine sein, wieder aufzubauen und zu reformieren. https://www.politico.eu/article/ukraine-war-another-maidan-revolution-dignity-russia-invasion/
2020-04-03.– (Foreign Affairs) — John O’Loughlin, Gerard Toal, und Kristin M. Bakke: Mit Liebe nach Russland – … Unsere Umfragen im Jahr 2014 und erneut im Jahr 2019 zeigen, dass die Krimbewohner die russische Annexion mehrheitlich weiterhin befürworten. https://www.foreignaffairs.com/articles/ukraine/2020-04-03/russia-love
2023-03-24.– (Covert Action Magazine) — Felix Abt: Wie Selenskyj daran gehindert wurde, im Donbass Frieden zu schließen
https://covertactionmagazine.com/2023/03/24/how-zelensky-was-prevented-from-making-peace-in-the-donbas/
Anatol Lieven ist Direktor des Eurasien-Programms am Quincy Institute for Responsible Statecraft in Washington DC. Er ist außerdem Gastprofessor am War Studies Department des King’s College London und Vorstandsmitglied des Simone Weil Centers.
Lieven forschte und veröffentlichte bereits seit Anfang der 90er Jahre über die Entwicklung in Mittelosteurooa, u.a. in seinen Büchern: Ukraina and Russia – Fraternal Rivals (1999) / Chechnya: Tombstone of Russian Power (1998) / The Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence (1993).