Am 27. Dezember 2022 führte die taz ein Interview mit Rolf Mützenich über dem Ukraine-Krieg. Er kritisiert, dass Diplomatie in Deutschland reflexhaft unter Verdacht gestellt werde, obwohl Diplomatie notwendig sei für die Schaffung der Voraussetzungen für einen Waffenstillstand, um “die Zivilbevölkerung (zu) schützen und die Verheerungen dieses Krieges stoppen”. Im folgenden Auszüge aus dem TAZ-Interview:
wochentaz: Herr Mützenich, war 2022 das schlimmste Jahr, das Sie je erlebt haben?
Rolf Mützenich: Ja, der Beginn und der Verlauf des größten Landkriegs in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war für mich eine folgenschwere Ernüchterung. Ich hatte nicht vermutet, dass sich Menschen das hier noch gegenseitig antun.
taz: Haben Sie befürchtet, dass der Krieg zu einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der Nato eskaliert?
RM: Das tue ich jeden Tag. Das sehe ich nicht nur im Rückblick, das fürchte ich auch für die Zukunft. (…) Es gehört zur Eigendynamik von Kriegen, dass die Kontrolle über Konflikte entgleiten kann.
(…)
taz: Hat Deutschland nichts falsch gemacht? Die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas ist seit der Annexion der Krim 2014 noch gestiegen.
Mützenich: Ich sehe im Rückblick natürlich Fehler, auch bei der Energiepolitik. Aber zu einer konstruktiven Debatte gehört mehr. Nach dem Ende des Kalten Krieges waren manche geradezu besoffen von dem vermeintlichen Sieg des Westens. Und glaubten, auf Regeln, die während des Kalten Krieges geherrscht haben, verzichten zu können.
taz: Sie sprechen von den Kriegen in Afghanistan, Irak, Libyen?
Mützenich: Ja, diese Kriege – und generell gab und gibt es zu wenig Mühe auch in westlichen Staaten, die Interessen anderer Länder mit zu bedenken. Den Preis dafür zahlen wir heute. Es gibt eine Reihe von Regierungen, die sich in der UN-Generalversammlung bei der Abstimmung enthalten haben, obwohl sie den Angriffskrieg Russlands verurteilen. Deren Motive betreffen auch das Verhalten des Westens in der Vergangenheit.
taz: Sie haben im Bundestag eine Karte in die Luft gehalten, die zeigte, dass Staaten, welche die Hälfte der Weltbevölkerung vertreten, sich in der UN-Versammlung enthalten haben. Darunter China, Indien, Pakistan, Südafrika, Senegal. Was folgt daraus?
Mützenich: Es wäre falsch gewesen, diese Länder für diese Enthaltung öffentlich massiv anzugreifen oder moralisch zu verurteilen. Der Bundeskanzler hat die richtige Konsequenz gezogen und einige dieser aufstrebenden Staaten zum G7-Gipfel eingeladen. Scholz hat versucht, die Perspektive dieser Länder zu verstehen und sie für eine konstruktive Haltung im Krieg gegen die Ukraine zu gewinnen.
Diese Politik hat Früchte getragen. Das war beim G20-Gipfel in Indonesien und auch beim Besuch in Peking zu beobachten.
taz: War das nur Gipfelsymbolik oder ein wirklicher Erfolg?
Mützenich: Man kann in der internationalen Politik nicht wie in einem Laborversuch Ergebnisse fixieren. Es geht um Prozesse. Ich finde es beachtlich, dass Bundeskanzler Scholz in Peking drei Stunden mit Präsident Xi in verschiedenen Formaten gesprochen hat und dass am Ende die Verurteilung des Einsatzes von Nuklearwaffen im Mittelpunkt der chinesischen Äußerungen standen.
Das Gleiche hat sich in Indonesien beim G20-Gipfel wiederholt, der die Drohung mit Atomwaffen für unzulässig erklärt hat. Präsident Putin ist isoliert. Das ist ein ermutigendes Zeichen. Der Bundeskanzler hat diesen Kurs seit März innerhalb der Bundesregierung verfolgt. Man kann geradezu von einer Scholz-Doktrin sprechen.
taz: Im Januar, fünf Wochen vor dem russischen Angriff, haben Sie der taz gesagt: „Wir brauchen perspektivisch eine europäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands, auch wenn dies derzeit noch illusorisch erscheint.“ War dieser Satz ein Fehler?
Mützenich: Nein, aber unter den Gegebenheiten aussichtslos. Mir war damals schon klar, dass dies eine sehr langfristige Perspektive ist. Egon Bahr hat mit Blick auf die internationale Ordnung und die Landkarte festgestellt: Die USA sind für Deutschland unverzichtbar, Russland ist unverrückbar. Das ist noch immer richtig. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, für immer mit Russland im Krieg zu leben. Aber die Voraussetzung ist jetzt eine andere. In Moskau regiert weiterhin ein Kriegsverbrecher.
taz: Muss Putin in Den Haag angeklagt werden?
Mützenich: Die internationale Strafgerichtsbarkeit wird gegen Präsident Putin nicht so vorgehen können, wie ich es mir wünsche. Ich kenne die Zwänge und Voraussetzungen einer solchen Strafverfolgung. Umso wichtiger ist, dass wir die Strafgerichtsbarkeit stärken und den Angriffskrieg zu einer international akzeptierten Straftat machen.
taz: Sie haben im Mai gesagt, dass ein schneller Waffenstillstand nötig ist. Die Ukraine hat im September große Gebiete zurückerobert. War Ihre Forderung falsch?
Mützenich: Nein. Wer die Zivilbevölkerung schützen und die Verheerungen dieses Krieges stoppen will, muss einen Waffenstillstand für ein erstrebenswertes Ziel halten. Ich verstehe natürlich, dass die Ukraine Gebiete zurückerobern will, und ich unterstütze die Integrität der Ukraine uneingeschränkt. Dennoch müssen die Voraussetzungen für einen Waffenstillstand erarbeitet werden.
Quelle: 2022-12-26.— (TAZ) – Interview mit Rolf Mützenich über Ukraine-Krieg
Rolf MÜTZENICH, 63, ist seit 2019 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Von 2004 bis 2009 war er für die SPD im Bundestag abrüstungs- und nahostpolitischer Sprecher, von 2009 bis 2013 deren außenpolitischer Sprecher und stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Als Politikwissenschaftler promovierte er an der Uni Bremen mit einer Arbeit zum Thema „Atomwaffenfreie Zonen und internationale Politik“.