in der Washington Post vom 10. März 2020 schrieb Katrina vanden Heuvel unter dem Titel “It’s Propaganda, all right, against Bernie Sanders” eine Kolumne mit scharfer Kritik an der New York Times, die — mitten im Vorwahlkampf der Demokraten — ihre Titelseite mit der Schlagzeile krönte: “Als Bernie Sanders sich für bessere Beziehungen einsetzte, witterte die Sowjetunion eine gute Gelegenheit“. Spontan protestierte der — unter Präsident Reagan und Bush dienende — frühere US-Botschafter in Moskau, Jack Matlock, in einem Brief an die Herausgeber gegen die “Geschichtsklitterung” und verwies darauf, dass er selbst von Präsident Reagan den Auftrag bekommen hatte, Städtepartnerschaften massiv zu fördern. Seine Kritik erschien zusammen mit einem anderen Leserbrief (“Schreiben Sie demnächst einen Artikel über die Rolle von Präsident Reagan als Werkzeug der sowjetischen Propaganda”) unter dem Titel “Briefe zur Verteidigung von Sanders’ Bemühungen um Städtepartnerschaften“.
Katrina vanden Heuvel nimmt den Vorgang zum Anlass, mit einer Kolumne ihre Sorge auszudrücken, dass die offene Debatte über die Erneuerung der Politik behindert wird durch eine “Art von Propaganda, wie sie totalitäre Regime bevorzugen”. Auch mit anderen kritischen Artikeln hat sie sich wiederholt bemüht, Bemühungen v.a. bei den US-Demokraten für eine grundlegende Erneuerung ihrer Aussenpolitik anzustoßen. Wir danken Katrina vanden Heuvel für die Genehmigung, eine deutsche Ausgabe ihrer Kolumne in der Washington Post auf unserer Website zu veröffentlichen:
OK, Propaganda gegen Bernie Sanders — Da haben wir’s: Prominent platziert auf der Titelseite der New York Times die schon oft erzählte Story, dass Bernie Sanders 1988 als Bürgermeister von Burlington (Vermont) mit einer Delegation in die Sowjetunion gereist war, um mit der Stadt Jaroslawl eine Städtepartnerschaft zu gründen. Und dann Untertitel das “bisher unbekannte Dokumente darauf hinweisen, dass Moskau darin eine gute Gelegenheit für sowjetische Propaganda sah.”
Und was war die Wirklichkeit? In den späten 1980er Jahren begann die Sowjetunion unter dem reformorientierten Führer Michail Gorbatschow sich zu öffnen. Er hatte Perestroika und Glasnost ins Leben gerufen, um durch umfassende Reformen das sowjetische System zu modernisieren.
Fast zur gleichen Zeit wie Bernie Sanders besuchte der zutiefst kalte Krieger, Präsident Ronald Reagan, Moskau.
Ich selbst war dabei, als im Mai 1988 die beiden Präsidenten gemeinsam über den Roten Platz gingen: Reagan blieb vor Journalisten stehen, um ihnen zu erklären, dass er “die Sowjetunion nicht länger als das Reich des Bösen“ betrachte, weil sie sich unter Gorbatschow so sehr verändert hätte. Damals hatte Reagan dutzende amerikanische Städte ermutigt, Partnerschaften mit sowjetischen Städten aufzubauen. Mit dieser „Bürgerdiplomatie“ sollten Barrieren abgebaut werden, damit die Menschen durch direkten Kontakt voneinander lernen und die Verbesserung der Beziehungen zwischen beiden Nationen unterstützen, um ein weiteres nukleares Wettrüsten um die beiderseitige Vernichtungsfähigkeit abzuwenden.
Der ehemalige Botschafter in der UdSSR, Jack Matlock, schrieb spontan einen Brief an die Herausgeber und kritisierte den Artikel in der New York Times als völlig irreführend. Er weist darauf hin, dass er selbst damals „den offiziellen Auftrag hatte, die Bemühungen von Bürgermeister Sanders und anderen US-Bürgermeistern nachdrücklich zu unterstützen. . . . Die Ausweitung der Beziehungen zwischen den Menschen war eines der wichtigen Ziele der Politik von Präsident Ronald Reagan gegenüber der UdSSR, die später von Präsident George H.W. Busch fortgesetzt wurde.”
In der längeren Version seines Briefes, die Matlock mir persönlich zeigte, schrieb er: “dieser Artikel ist ein Paradebeispiel für die Art von Propaganda, die von totalitären Regimen bevorzugt wird: einzelne lokale Bemerkungen und Zitate aus dem historischen Kontext zu ziehen und einen politischen Gegner anzuschwärzen.“ Die Times, schlussfolgert Matlock, schuldet Sanders und ihren Lesern eine Entschuldigung.
Anders als unsere Geheimdienste, die damals die Reformen von Gorbatschow für einen politischen Trick hielten, hatten Reagan und Sanders genau verstanden: Gorbatschow versuchte, den Kalten Krieg zu beenden, damit er die UdSSR reformieren konnte. …
Heute stellt Sanders die Mainstream-Medien vor einen harten Test. Als „aufständischer“ Kandidat fordert er die Allgemeinplätze und die gescheiterte Politik des überparteilichen Zentrums heraus. Als Populist weist er auf das große Geld und die mächtigen Interessen hin. Das ist eine Hauptquelle für seine Werbung. Dass er sich selbst als “demokratischen Sozialisten” bezeichnet, führte zu hysterischen plumpen Angriffen – von Chris Matthews, der vor öffentlichen Hinrichtungen warnt, bis hin zu der Twittermeldung von Donald Trump Jr., Sanders wolle “wortwörtlich die USA zu einer UdSSR machen.”
In einer Zeit, wo das Scheitern des Establishments offensichtlich ist, brauchen die Vereinigten Staaten dringend eine grundlegende Debatte über unsere Prioritäten und unsere Politik: über den Umgang mit den ernsten Gefahren für unsere Demokratie durch wachsende Ungleichheit, durch die existenzielle Krise durch den Klimawandel, und durch eine Wirtschaftspolitik, die viel zu viele Menschen in den „Tod der Verzweiflung“ treibt. Dies gilt insbesondere auch für unsere komplizierten Beziehungen zu Russland.
Es ist nicht nur unfair gegenüber Sanders, seine Reise in die UdSSR im Jahre 1988 so zu verzerren, sondern auch ausgesprochen schädlich, wenn Konservative wie Liberale Russland als Prellbock zu benutzen.
Die dringend notwendige Debatte wird nicht stattfinden, wenn denjenigen, die die gescheiterte bisherige Politik in Frage stellen, nicht mit Argumenten, sondern mit Verleumdungen geantwortet wird, die die Amerikaner davon abbringen sollen, anstatt die Alternativen zu verstehen, die Diskussion darüber abzubrechen.
Es ist wirklich bedauerlich, wenn die New York Times auf ihrer Titelseite eine schmierige Story veröffentlicht, die, wie Matlock sagt, “die Geschichte auf den Kopf stellt”. Amerikaner haben was Besseres verdient.
Quelle: 10.03.2020, Washington Post, Katrina vanden Heuvel – It’s Propaganda, all right, against Bernie Sanders – In Absprache mit Katrina vanden Heuvel redaktionell leicht gekürzt und von Wolfgang Biermann ins Deutsche übersetzt.
Weitere Artikel von Katrina vanden Heuvel:
- 03.03.2020 – (Washington Post, Katrina vanden Heuvel) – Wenn Milliardäre uns sagen, dass sie unsere Wahlen gekauft haben, sollten wir handeln
- 25.02.2020 – (Washington Post, Katrina vanden Heuvel) – Bereiten Sie sich vor auf die Anti-Sanders-Medienlawine
- 30.09.2018 – (INEP) – Katrina vanden Heuvels Appell in der Washington Post an US-Demokraten: Formuliert endlich eine vernünftigere Außenpolitik!
- 10.08.2018 – (INEP) – THE NATION eröffnet Debatte: Warum wir einen grundlegenden Wandel der US-Außenpolitik brauchen
- 20.07.2018 – (INEP) – Katrina vanden Heuvel über Trump in Helsinki: Surreales vom Realen unterscheiden
- 06.06.2018 – (INEP) Katrina vanden Heuvel: US-Demokraten haben versäumt, eine Alternative zum endlosen Krieg anzubieten
- Wikipedia-Info über Katrina vanden Heuvel