Am 6. Oktober 2018 erschien in der „Pforzheimer Zeitung“ ein Interview mit Christian Wipperfürth über die Russlandpolitik. Wir veröffentlichen folgenden Auszüge (Die Fragen des Chefreporters Marek Klimanski sind kursiv):
Marek Klimanski: … Vor wenigen Tagen ist ein aufsehenerregendes Buch des Historikers Timothy Snider erschienen, der Putin als treibende Kraft hinter den Krisen der westlichen Demokratien sieht, weil Putin weltweit autoritären Regierungen und Kräften mit reaktionären Ideologien zur Macht verhelfen möchte – in Deutschland tue er alles, um der AfD in die Hände zu spielen. Putin als Gottvater der globalisierten Autokraten – wie realistisch ist das?
Christian Wipperfürth: Sarkastisch gefragt: Hat Putin auch der polnischen Regierung in den Sattel verholfen? Verschwörungstheorien helfen nicht weiter, im Gegenteil. Im Westen halten viele Menschen eine verstärkte Öffnung nach Außen und mehr internationale Kooperation zur Lösung gesellschaftlicher oder etwa außenpolitischer Probleme für nötig. … Die Spannungen, ja Erosionserscheinungen etwa der EU, der NATO oder innerhalb westlicher Gesellschaften sind hausgemacht. …Hiesige „Russlandkritiker“, die hinter der Unzufriedenheit im Westen ausländische Machenschaften vermuten, gehen mindestens ebenso fehl. Man möge sich an die eigene Nase fassen, hier wie dort.
MK: In welche Kategorie steckt Putin in Sniders Modell den US -Präsidenten? Ein wohltuend autoritärer Partner auch auf der anderen Seite der Erdhalbkugel, ein nützlicher Idiot oder ein unangenehmer, weil auch unberechenbarer Gegenspieler?
CW: Putin kann mit „starken Männern“ fraglos besser als mit Politikern, die stark auf „political correctness“ achten. Der Kreml hält die US-Politik aber mittlerweile für besorgniserregend unkalkulierbar. Dies liegt einerseits an der Persönlichkeit Trumps, andererseits versuchen ihn die Demokraten mit dem Thema Russland in die Defensive zu bringen. Beide Seiten instrumentalisieren außenpolitische Fragen, um innenpolitisch zu punkten. Das ist neu und macht die US-Politik beispiellos unberechenbar und spannungsverschärfend.
MK: Sein eigenes Staatsverständnis ist ja ohne Frage ein autoritäres. Wie steht es um die Demokratie in Russland, und wie hoch sind die Chancen, dort in absehbarer Zeit eine Demokratie nach unserem Verständnis zu bekommen?
CW: Die Attraktivität des westlichen Wirtschafts- und Politikmodells hat in den letzten zehn bis 15 Jahren weltweit sehr gelitten, auch in Russland. Ursachen sind etwa die von den USA ausgegangene Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008/09, missglückte außenpolitische Abenteuer des Westens wie etwa in Libyen 2011 oder die scharfen Konflikte über die Zuwanderungspolitik. China oder etwa Singapur haben mit ihren autoritären Systemen das liberale Vorbild teils abgelöst, auch in Russland. Die Chancen auf einen offenen und fairen politischen Wettbewerb sind in Russland schlechter als vor Jahren. Das beeinträchtigt die Zukunftschancen des Landes. Jede Führung braucht eine handlungsfähige Opposition.
MK: Wie geht es der Masse der Russen damit?
CW: Kremlkritiker werden oft als fünfte Kolonne des Westens angesehen. Je angespannter die westlich-russischen Beziehungen sind, desto geringer sind die Chancen auf einen frischen politischen Wind in Russland.Die russischen Superreichen, die in der Vergangenheit einen Großteil ihres Vermögens in den Westen gebracht haben müssen zunehmend fürchten, dass ihre Milliarden auf Schweizer Konten oder in den USA eingefroren werden. Sie transferieren darum zunehmend Mittel zurück nach Russland. Die Sanktionen stärken somit den Kreml, auch weil die russische Bevölkerung sich hinter ihn schart, denn „Mütterchen Russland“ scheint bedroht.
MK: Wie fest sitzt Putin im Sattel?
CW: Er selbst ist unangefochten. Aber auch seine Zeit wird vorbei gehen, wie die jedes Menschen. Es ist unklar und wird heiß diskutiert, wie die Nach-Putin-Ära aussehen könnte. Wahrscheinlich wird er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt noch lange eine mit zentrale Rolle spielen, ähnlich wie Deng Xiaoping im China der 1990er Jahre. Falls Putins Gesundheit es zulässt.
MK: Wie geht es Russland wirtschaftlich?
CW: Die Lage ist stabil, die Reserven sind hoch. Die Entwicklung des Landes lahmt jedoch, dies war auch bereits vor der Verhängung der westlichen Sanktionen 2014 der Fall. Russland kann noch viele Jahre über die Runden kommen, selbst wenn die Sanktionen wesentlich verschärft werden sollten. Das Land braucht aber dringend neue wirtschaftliche Impulse, so wie in den letzten zehn Jahren kann es auf Dauer nicht weitergehen. Der Kreml hat dies womöglich verstanden.
MK: Nach dem Sommermärchen, der Fußballweltmeisterschaft in Russland, was überwiegt – der daraus bezogene Schwung oder Ernüchterung?
CW: Die Fußballweltmeisterschaft war für dutzende Millionen Russen tatsächlich ein „Sommermärchen“. Die heitere Stimmung wurde getrübt durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer und des Renteneintrittsalters um fünf Jahre. Vor allem letzteres war notwendig, die Politik des Kremls besitzt m.E. aber unverkennbar eine soziale Schlagseite: Die Mehrheit der Bevölkerung wird aus nachvollziehbaren Gründen belastet, während die Reichen weiterhin von dem im internationalen Vergleich sehr niedrigen Steuersatz von 13 % profitieren. Im Westen wie in Russland sind es nicht böswillige äußere Mächte, die die Stabilität bedrohen, sondern innere Fragen.
MK: Was empfehlen Sie der deutschen Außenpolitik im Umgang mit Russland in dieser Lage?
CW: Erstens: Einen kühlen Kopf. Bitte keine Verschwörungstheorien. Zweitens: Keine Illusionen: Auf beiden Seiten ist das Misstrauen stark gewachsen. Ein Durchbruch in ein neues Zeitalter deutsch-russischer Kooperation ist auf lange Jahre nicht denkbar. Wer einen zu großen Schritt nach vorne macht fällt oft auf die Nase. Drittens: Meinungsunterschiede nicht kleinreden, aber dort zusammenarbeiten wo es geht und sinnvoll ist: Iran, wahrscheinlich Syrien und Transnistrien. Viertens: Der Westen muss deutlich machen, dass er kein Problem mit den Menschen in Russland hat, sondern lediglich in einigen wichtigen Fragen mit dem Kreml. Ein Beispiel: Für Russen ist es heutzutage viel komplizierter ein Schengen-Visum zu erhalten als noch vor einigen Jahren. Dies sollte sich ändern.
Quelle: cwipperfuerth.de/…/welche-russlandpolitik-ist-angemessen