Was der 22. Juni 1941 heute für Russen und deren Verhältnis zu den Deutschen bedeutet
Ich wurde 1957 geboren, zwölf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Aus historischer Sicht sind zwölf Jahre keine allzu große Zeitspanne. In meiner Kindheit erinnerte mich der Widerhall des Kriegs von Zeit zu Zeit an die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit: beinamputierte Kriegsversehrte in den Moskauer Vorstadtzügen, aus Straßenlautsprechern schallende Kriegslieder, die 1-Rubel-Gedenkmünze zum „20. Jahrestag des Sieges“ mit dem Bildnis des Sowjetischen Soldaten als Befreier vom sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin.
Die Jungen meiner Generation wurden durch die alten sowjetischen Filme „über den Krieg“ erzogen; wieder und wieder schauten wir die „Heldentaten eines Kundschafters“, „Schild und Schwert“, das Kinoepos „Befreiung“ und die damals in der Sowjetunion extrem beliebte polnische Serie „Vier Panzersoldaten und ein Hund“. In unserem Hof, wie vermutlich in allen Moskauer Höfen damals, spielten wir mit Feuereifer den vergangenen Krieg nach, und das schlimmste Schicksal für uns war es, durch das Los für die Rolle der „Faschisten“ bestimmt zu werden.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie der 9. Mai (wegen der Zeitverschiebung nicht der 8. Mai wie in Deutschland) zum arbeitsfreien Tag erklärt wurde, und von da an verschattete dieser Frühlingsfeiertag mit all seinem emotionalen Hochgefühl Jahr für Jahr den gewohnten und sogar ein wenig eingestaubten sowjetischen 1.-Mai-Feiertag.
Ich erinnere mich an die Volksfeste im Zentrum Moskaus, an die Paradeuniformen und die goldenen Orden der alternden, aber immer noch sehr vitalen und damals noch zahlreichen Veteranen.
Ich erinnere mich an die auf sowjetische Art bescheidenen, aber immer erstaunlich heiteren Festessen in unserem vielstöckigen Haus, dessen grauer Granitblock hochmütig aus dem Gespinst der kleinen Gässchen des Arbat aufragte.
Ich erinnere mich, wie im Fernsehen eine Schweigeminute ausgerufen wurde, und wie unendlich langsam die Sekunden dieser Minute sich hinzogen, während ich darüber nachdachte, wie glücklich ich mich schätzen durfte, in der Sowjetunion geboren und aufgewachsen zu sein, dem Land, das das allerböseste Böse, das es jemals auf der Welt gab, besiegt hatte.
Der glorreiche Sieg von 1945 ist Gegenstand des Stolzes für jeden russischen Menschen, der den Sinn für historisches Erinnern und das Gefühl für seine nationale Identität nicht vollständig verloren hat.
Schwierige Übung: Erinnern an die Niederlage
Warum aber passiert es mir dann jedes Mal, wenn mir ein anderes Datum in den Sinn kommt – ich meine den 22. Juni –, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken läuft, sich mein Hals zusammenschnürt und meine Hände sich zu Fäusten ballen? Warum pressen sich mir, einem durchaus nicht mehr jungen, nicht allzu sentimentalen, hinreichend zynischen Menschen, schon bei den ersten Tönen des Liedes „Der Heilige Krieg“ von Alexander Alexandrow die Kiefer krampfhaft zusammen und treten die Adern an den Schläfen hervor?
Denn das Jahr 1941 kann man doch wahrlich nicht als eine Zeit des Triumphs für die russischen Streitkräfte ansehen. Im Gegenteil, diese Zeit, vor allem die ersten drei, vier Monate des Kriegs, waren eine Zeit permanenten Rückzugs, verschiedener „Kessel“ und Einkreisungen, eine Zeit hoffnungsloser Durchbruchsversuche und Gegenangriffe, eine Zeit epischer Niederlagen.
Sommer und Herbst 1941 war eine Zeit verhängnisvoller Fehler der Führung der Roten Armee und kolossaler Verluste nicht nur an Soldaten, sondern auch unter der Zivilbevölkerung der UdSSR. Die Ereignisse dieser Phase des Kriegs wurden vielfach und detailliert beschrieben, in historischen Forschungsarbeiten und in den Memoiren von Kriegsteilnehmern, in der Literatur, in unzähligen Dokumentar- und Spielfilmen.
Aber haben wir uns nicht 1945 an den Faschisten für dieses Jahr 1941 ausgiebig gerächt? Überdeckt nicht die Süße des Sieges alle Bitterkeit vorangegangener Niederlagen?
Eigentlich habe ich gar keinen besonderen Grund, mich immer wieder an das Jahr 1941 zu erinnern. Aber trotzdem, trotzdem – die Siegesfeier des 9. Mai, bei all ihrer Bedeutsamkeit, kann doch die Tragödie des 22. Juni niemals ganz aus meinem Gedächtnis tilgen.
Seltsamerweise ruft kein anderes tragisches Datum aus der Geschichte meines Landes eine so heftige emotionale Reaktion bei mir hervor. Nicht der 25. Oktober 1917, der Beginn der Revolution, die einen grausamen Bürgerkrieg auslöste und namenloses Unheil über die Untertanen des Russischen Reichs brachte. Nicht der 26. Dezember 1991, der Tag, an dem die Sowjetunion zerfiel und den W. W. Putin später die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ nannte.
Deutsche: Feinde für ewig?
Ich glaube, diese meine zutiefst persönliche Wahrnehmung des 22. Juni ist keine Ausnahme, sondern eher die Regel bei den Russen der älteren Generationen und vielen meiner Altersgenossen im postsowjetischen Raum. …
Kaum findet man heute auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion noch Menschen, die die Bundesrepublik des dritten Jahrzehnts des einundzwanzigsten Jahrhunderts direkt mit dem Dritten Reich der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Verbindung bringen. …
Was bedeutet der 22. Juni heute für die Menschen meiner Generation?
Er ist das Symbol einer gewaltigen, unfassbaren historischen Katastrophe, die sich dem rationalen Verständnis entzieht, und die die Geschichte des Staats und das Schicksal jedes Einzelnen in ein „Davor“ und ein „Danach“ teilt.
Er ist das Symbol eines universalen Unglücks, vor dem alle persönlichen Dramen und Tragödien unweigerlich verblassen, in den Hintergrund treten, nichtig werden, wie übrigens alle persönlichen Leistungen und Erfolge der Vorkriegszeit.
Er ist ein Symbol für den menschlichen Mut und die Bereitschaft, bis zum Ende zu kämpfen, auch wenn die Chancen auf einen Sieg illusorisch scheinen, die Niederlage aber unausweichlich.
Er ist ein Symbol für die größte nationale Einigkeit und eine kollektive Opferbereitschaft, wie sie es nie zuvor gegeben hat und kaum jemals wieder geben wird.
Dürfte ich wählen, an welchem Ereignis des 20. Jahrhunderts ich gern teilgenommen hätte, meine Wahl fiele auf die Erstürmung des Winterpalasts durch aufständische Matrosen im Oktober 1917. Noch vor der Siegesparade vom Juni 1945. Ich hätte mich den Verteidigern der Brester Festung am 22. Juni 1941 angeschlossen, um ihr tragisches und heldenhaftes Schicksal zu teilen.
Sowjetunion: Schweigen über den 22. Juni
Zu Sowjetzeiten wurde der 22. Juni in keiner Weise festlich begangen. Die Führer der UdSSR, von Josef Stalin bis Leonid Breschnew, erinnerten sich und das Volk nicht gerne an die Misserfolge von 1941. Erst in letzter Zeit bekommt dieses Datum in Russland den offiziellen Status eines Gedenk- und Trauertags, um den herum sich besondere Traditionen und Rituale herausformen. Heute gehen am 22. Juni in ganz Russland die Flaggen auf Halbmast, Fernseh- und Radiosender strahlen in der Regel weder Unterhaltungssendungen noch Werbung aus.
Die Sowjetunion ist längst zerfallen, aber dieses Datum eint uns alle noch immer. In diesem Jahr wird der 22. Juni auch in den Nachbarländern Russlands feierlich begangen, wenn auch unter anderen Bezeichnungen. Für Belarus ist es der Tag des Nationalen Gedenkens an die Opfer des Großen Vaterländischen Kriegs, in der Ukraine Tag der Trauer und der Ehrung der Opfer des Kriegs.
Die Historiker unserer Länder mögen endlos streiten über die Ursachen des Kriegs, die Rolle des Münchner Abkommens oder des Molotow-Ribbentrop-Pakts oder darüber, warum die Rote Armee 1941 scheiterte. Streiten werden sie auch darüber, wer wie viel zum gemeinsamen Sieg beigetragen hat und wie man das Ende des Zweiten Weltkriegs am besten begeht. …
Schon bei meinen Kindern löst der 22. Juni als Datum längst nicht mehr eine so starke emotionale Reaktion aus wie in meinem Herzen. Und so muss es wohl sein. Wahrscheinlich wird irgendwann der 22. Juni für die Russen und ihre Nachbarn nur ein beliebiges Blatt im Abreißkalender sein, das sich in nichts von den anderen Blättern darin unterscheidet. Nur nicht für uns.
Quelle: Andrei Kortunov: “Was der 22. Juni 1941 heute für Russen und deren Verhältnis zu den Deutschen bedeutet”. Andrei Kortunov ist Generaldirektor des Russian International Affairs Council (RIAC) in Moskau. Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann. Wir danken Andrei Kortunov für die Genehmigung des Nachdrucks